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Alternsgerechtes Arbeiten

„Altern, Arbeit und Gesundheit“: Praktische Beispiele zur Verbesserung der Altersgerechtigkeit

Menschen verändern sich im Lauf der Zeit – körperlich, geistig, psychisch und sozial. Das umfasst die gesamte Bandbreite des Wandels persönlicher Kapazitäten, die von der Zunahme beruflicher Routine und Sozialkompetenz bis zur Verringerung körperlicher Leistungsfähigkeit reicht. Gleichzeitig verändern sich Tätigkeitsanforderungen, z. B. durch den Einsatz neuer Techniken, bei der Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen, bei Modifikationen der Ablauforganisation etc. Wir haben daher bei Univ.-Prof. Dr. Heinrich Geissler nachgefragt: Alter(n)sgerechtes Arbeiten – (wie) geht das?

Portrait Univ.-Prof Dr. Heinrich Geissler
zVg

SICHERE ARBEIT: Was verändert sich im Altersprozess so, dass es für die Beschäftigten kritisch werden kann?

Geissler: Ich möchte auf fünf Aspekte hinweisen. Erstens die körperlich belastenden Tätigkeiten, wie schwere körperliche Arbeit, Heben und Tragen von Lasten, langes Stehen, Zwangshaltungen oder auch kurzzyklische Tätigkeiten, weil sich – trotz sportlichen Trainings – unsere körperliche Leistungsfähigkeit verringert. Zweitens die zeitlichen Dimensionen der Arbeit: Wechsel- und vor allem Nachtschichtarbeit, eine hohe Zahl von regelmäßigen Überstunden und Urlaubsrückstände, insbesondere bei Älteren. Drittens die psychischen Belastungen: Hier sind es vor allem der Zeitdruck und hohe bzw. starre Leistungsvorgaben. Viertens belastende Umgebungsbedingungen. Denn mit dem Alter wird Umgebungslärm belastender, weil wir schlechter hören. Aber auch unsere Hitze- und Kälteverträglichkeit nimmt ab, und wir brauchen mehr Licht, weil sich unsere Sehfähigkeit verändert. Und nicht zuletzt fünftens: Mit dem Alter wächst unser Wunsch nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmung. Insgesamt bedeuten alle genannten Entwicklungen, dass es notwendig ist, tätigkeitsspezifische Entlastungsstrategien zu haben und diese, um es noch etwas komplizierter zu machen, individuell sehr unterschiedlich sein können und müssen: Denn im Bezug auf unsere Arbeitsbewältigungsfähigkeit unterscheiden wir uns im Alter individuell immer mehr als in jüngeren Jahren.

SICHERE ARBEIT: Die Digitalisierung der Arbeit schreitet immer weiter und schneller fort. Wie sieht es mit der Lernfähigkeit Älterer aus?

Geissler: Ich möchte zwei Dimensionen unterscheiden: die Lernfähigkeit und die Lerngeschwindigkeit. Nur die Lerngeschwindigkeit nimmt ab. Wenn es um neue IT-Programme geht, dann ist es nicht sinnvoll, unterschiedliche Altersgruppen zusammen zu unterrichten, weil die Älteren langsamer sind. Wenn es um EDV geht, dann wäre ab 50 Einzelunterricht angesagt, weil wir mit dem Alter zunehmend individuellere Lernmuster haben. Wenn es allerdings um die Weitergabe von Erfahrungswissen geht, dann sollte das generationenübergreifend stattfinden.

SICHERE ARBEIT: Wenn der Altersprozess so verläuft, wie Sie das gesagt haben, ist es dann sinnvoll, dass die meisten Arbeitsanforderungen altersinvariant sind?

Geissler: Sie sprechen ein wichtiges Problem an: Eigentlich würden wir, um die Produktivität der unterschiedlichen Generationen voll zu nutzen, so etwas wie „mitalternde Arbeitsbedingungen“ brauchen. Nicht immer wird (rechtzeitig) darauf geachtet, ob Person (individuelle Kapazitäten im Lebensverlauf) und Arbeit gut zusammenpassen. Beides ist – in Grenzen – beeinflussbar: Jüngere Beschäftigte brauchen Zeit und Unterstützung beim Einstieg in die Tätigkeiten, bis ein ausreichendes Maß an routinierter Sicherheit in der eigenständigen Ausführung der Arbeiten gegeben ist. Bei beruflichen Entwicklungen – z. B. in Form anderer Tätigkeiten oder des Umstiegs in andere Positionen – sind neue Herausforderungen zu bewältigen. Manche Tätigkeiten lassen sich bis zum Pensionseintritt ausführen, andere sind mit zunehmendem Alter oder mit der Dauer von Belastungsexpositionen schwierig oder, wie eingangs ausgeführt, nicht mehr im bisherigen Ausmaß gewünscht. Dann sind rechtzeitig Entlastungen angesagt.

SICHERE ARBEIT: Fast alle Unternehmen und Organisationen haben in den kommenden Jahren große demografische Herausforderungen zu bewältigen. Wo kann man ansetzen, was kann man tun, um diese demografischen Herausforderungen möglichst produktiv zu bewältigen?

Geissler: Ich möchte kurz drei Ansätze darstellen: den Arbeits- und Gesundheitsschutz, die Organisations- und Personalentwicklung sowie die Aufgaben der Führung im demografischen Wandel. Ich setze voraus, dass es eine ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung – also auch unter Einbeziehung der psychischen Belastungen – gibt. Es ist sinnvoll, dass diese zudem unter Altersgesichtspunkten erfolgt, wie im österreichischen Arbeitsschutz vorgeschrieben. Darüber hinaus geht es meiner Ansicht nach darum, einerseits die Selbstbeobachtungsfähigkeit der Beschäftigten bezüglich der körperlichen und psychischen Gesundheit zu erhöhen. Gleichzeitig wäre andererseits über korrektive Maßnahmen hinauszugehen und auf Früherkennung zu orientieren. Dafür gibt es Instrumente für die Präventivdienste (Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik, Arbeitspsychologie), z. B. das individuelle Arbeitsbewältigungs-Coaching und die anonymisierte Auswertung dieser individuellen Ergebnisse für die betriebliche Ebene. Böhler-Edelstahl beispielsweise setzt in Kapfenberg zur Früherkennung das Arbeitsbewältigungs-Coaching durch die Arbeitsmedizin flächendeckend als freiwilliges Angebot ein.

In der Organisations- und Personalentwicklung geht es darum, über mitalternde Arbeitsbedingungen (vgl. Frevel) nachzudenken – darüber, ob alle Tätigkeiten so sind, dass sie von allen Altersgruppen gut leistbar und auch gewollt sind:

  • bei den Jüngeren Gewährleistung der Life-Domain-Balance (Balance der unterschiedlichen Lebensbereiche), insbesondere hinsichtlich der Kinderbetreuung
  • bei den Älteren die wachsende Schwierigkeit, mit Erholungsdefiziten umzugehen

Beispiel Überstunden: Erst bei den 40-Jährigen und noch stärker bei den über 55-Jährigen wirken sich die wöchentlichen Arbeitszeiten auf die psychovegetative Symptomatik (z. B. Schlafstörungen) aus. Wenn alle Altersgruppen gleiche Arbeitszeiten haben, dann führt das zu einer Diskriminierung der Älteren. Das bedeutet: In der Personal- und Organisationsentwicklung gilt es zu berücksichtigen, dass wir altern. Das ist gar nicht so einfach, wie es klingt, weil mit dem Alter die individuellen Unterschiede wachsen und es für die Organisationsentwicklung darum geht, kollektive Rahmenbedingungen zu schaffen, die erweiterte persönliche Handlungsspielräume ermöglichen. Das sind die neuen Herausforderungen für das Management, aber auch für Belegschaftsvertretungen.

Nach meiner Erfahrung wissen Führungskräfte zu wenig über die Zusammenhänge von Alter(n), Arbeit und Gesundheit. Eine entsprechende Qualifizierung ist daher erforderlich. Zweitens haben relativ wenige Unternehmen eine Altersstrukturvorschau für die nächsten fünf bzw. zehn Jahre. Wenn ich in der Produktion Nachtschichten habe, dann ist es wichtig zu wissen, wie sich die Altersstruktur in diesen Bereichen entwickeln wird, denn mit dem Alter steigt das Risiko für Unverträglichkeit von Nachtarbeit. Und: Wenn Führungskräfte ein wertschätzendes Verhalten an den Tag legen, fördern sie Gesundheit. Die Führungskraft steht hinter mir. Die Frage ist nur: Stärkt sie mir den Rücken oder sitzt sie mir im Nacken, mit höchst unterschiedlichen Wirkungen für die Gesundheit?

In aller Kürze bedeutet gesundheitsfördernde Führung: Aufbau und Pflege wertschätzender, anerkennender Beziehungen zu den Mitarbeitenden und eine systematische, alter(n)sgerechte Arbeitsgestaltung für alle Generationen unter Berücksichtigung der mit dem Alter wachsenden individuellen Unterschiede.

SICHERE ARBEIT: Gibt es Untersuchungen zu den Kosten schlechter Arbeitsbewältigungskonstellationen oder zu veränderten Kosten im Prozess des Älterwerdens?

Geissler: Ja, die Finnen haben in Längsschnittstudien (vgl. Ilmarinen) nachweisen können, dass im Vergleich zu einer sehr guten Arbeitsbewältigungskonstellation eine mäßige und schlechte Arbeitsbewältigungsfähigkeit mit einem zweieinhalb- bis vierfachen Risiko einhergeht, erwerbs- oder berufsunfähig zu werden. In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Sterblichkeitsrisiko.

Zudem ist die Alterung der Beschäftigten durch einen von mir so genannten „demografischen Zuwachs an Krankenstand“ begleitet. Die Älteren sind weniger oft krank als die Jüngeren, wenn sie aber krank sind, dann länger. Das bedeutet, dass mit der Alterung von Belegschaften wachsende Kosten betreffend Krankenstand entstehen. Diese Kosten lassen sich zumindest reduzieren, wenn man in Früherkennung und Prävention investiert.

Eine 28-Jahre-Längsschnittstudie aus Finnland hat ergeben, dass Personen mit mäßiger und schlechter Arbeitsfähigkeit sowie die Arbeiter im mittleren Erwerbsarbeitsalter (45 bis 57 Jahre) ein erhöhtes Risiko haben, in der Rente im Alter von 73 bis 85 Jahren nicht zu selbstständiger Haushaltführung fähig zu sein, also nicht selbstständig einkaufen, kochen, waschen, Geldgeschäfte tätigen etc. können. In dieser Studie sind Einflussfaktoren wie Beziehungsstatus, Altersunterschiede, Alkohol- und Zigarettenkonsum, Sport und die bedeutendsten chronischen Erkrankungen berücksichtigt. Die Entscheidung über unsere Pensionsfähigkeit fällt in der Arbeitswelt. Wenn dann in etwa 40 Jahren ein Drittel der Bevölkerung über 65 und ein Achtel der Bevölkerung über 80 Jahre sind, dann wird es für das Sozialsystem wichtig sein, dass möglichst viele Personen möglichst lange zu selbstständiger Haushaltsführung fähig sind.

SICHERE ARBEIT: Wie könnte eine kurze Zusammenfassung der gesamten Thematik aussehen?

Geissler: Die Führung hat einen anerkennenden, wertschätzenden Umgang mit den Beschäftigten und unterstützt nach Kräften folgende Orientierungen:

  1. Es geht mit zunehmendem Alter um körperliche Entlastung.
  2. Wir können mit zunehmendem Alter mehr soziale, geistige und psychische Herausforderungen brauchen, mit einer Ausnahme im psychischen Bereich: Zeitdruck.
  3. Die individuellen Unterschiede in der Leistungsfähigkeit wachsen und der Wunsch nach Selbstbestimmung nimmt zu. Deshalb ist Gleichbehandlung Diskriminierung: Für Ältere sind die Wahlmöglichkeiten bezüglich der Arbeit(sbelastungen) zu erhöhen.

Weiterführende Literatur

  • Frevel, Alexander, Geissler, Heinrich: Alternsgerechtes Berufsleben – mitalternde Arbeit. In: Gesundheit und Arbeit. BKK Gesundheitsreport 2016. Hrsg: Franz Knieps und Holger Pfaff, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Bern 2016, S. 359–366
  • Ilmarinen, Juhani, Tempel, Jürgen: Arbeitsfähigkeit 2025. Hrsg. Marianne Giesert. VSA, Hamburg 2015
  • Siegrist, Johannes: Soziale Krisen und Gesundheit. Eine Theorie der Gesundheitsförderung am Beispiel von Herz-Kreislauf-Risiken im Erwerbsleben. Hans Huber, Göttingen, Bern, Toronto, Seattle 1996
  • Siegrist, Johannes: Arbeitswelt und stressbedingte Erkrankungen. Forschungsevidenz und präventive Maßnahmen. Urban & Fischer 2015

Ergebnisse im Überblick

Mit Beispielen für verschiedene Maßnahmen unterschiedlicher Reichweite in diversen Branchen zeigt die folgende Übersicht Möglichkeiten auf, alterskritische (Teil-)Tätigkeiten zu beachten und (Rahmen-)Bedingungen zu gestalten, um alternsgerechte Berufsverläufe besser zu ermöglichen.

Stahlproduktion

  • Der betriebsärztliche Dienst bietet allen Beschäftigten das Arbeitsbewältigungs-Coaching an. Einschränkungen der Arbeitsbewältigungsfähigkeit werden frühzeitig erkannt und in einem Regelprozess im Sinne der Erhaltung der Beschäftigung bearbeitet (präventives Eingliederungsmanagement).
  • Weniger Nachtschichten für Ältere durch Änderungen in der Schichtplanung
  • Für Anlernprozesse werden systematische Inhalts- und Ablaufpläne erarbeitet und Zeitbudgets für Lehrende/Mentoren zur Verfügung gestellt.
  • Für alle Beschäftigten in der Nachtschicht stellt der Betrieb eine warme, leicht verdauliche Suppe zur Verfügung.
  • Im kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) werden seit dem Projekt „Alter(n)sgerechte Berufsverläufe“ zunehmend Vorschläge zur altersgerechten Arbeitsgestaltung gemacht.

Automobil-Zulieferer

  • Aus dem Pilotprojekt in einem Betriebsteil wurden von 80 abgeleiteten Maßnahmen innerhalb eines Vierteljahres 38 Prozent umgesetzt, weitere 36 Prozent befanden sich in der Bearbeitung.
  • Software-Entwicklung
  • Ältere wünschen einen Einsatz mit mehr Planungsaufgaben und eine Entlastung vom stressigen Rund-um-die-Uhr-Einsatz in der produktionsnahen Störungsbehebung.

Kran- und Anlagenschlosserei

  • Die Ausbildung des Führungskräftenachwuchses war bislang auf unter 35-Jährige zugeschnitten. Jetzt wird unter Beachtung des Erfahrungswissens der „Meister 45plus“ eingerichtet.
  • Das anlagenspezifische Erfahrungswissen Älterer wird bei der Beschaffung berücksichtigt.
  • Altenpflege
  • Übernahme von Beratungs- und Planungsaufgaben zur Entlastung von der anstrengenden Pflegetätigkeit. Nebeneffekt: Entlastung der Führungskräfte von administrativen Aufgaben und dadurch mehr Zeit für Personalführung.
  • Belastungswechsel durch Teilaufgaben wie z. B. Pflegeaufnahme, Beauftragte/r für Verbandmaterial etc.
  • Vereinbarung von definierten Pausenzeiten, die in der Tourenplanung berücksichtigt sind. Pause ist Pause; keine Unterbrechungen, keine Nebentätigkeiten.
  • Vereinbarung von definierten Funktionszeiten für operative Führungskräfte
  • Entlastung der Pflege in bestimmten arbeitsintensiven Phasen und in Übergabezeiten durch bessere Kooperation mit der Alltagsbetreuung

Straßenmeistereien

  • Berücksichtigung der Sonneneinstrahlung bei der Planung von Außenarbeiten (z. B. rechte/linke Straßenseite; Nord-/Südrichtung bei Arbeiten an Böschungen)
  • An private Dienste vergebene Tätigkeiten werden bezüglich der Arbeitsschwere überprüft (In-Sourcing).
  • Öffentlicher Personennahverkehr
  • Zusätzliche bezahlte Entlastungstage für Ältere und für Personen, die aus medizinischer Sicht Entlastung benötigen
  • Möglichkeit, das Urlaubsgeld (für das Unternehmen kostenneutral) gegen zusätzliche Urlaubstage zu tauschen

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