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Medizinische Forschung

Traumaforschung aus Österreich

Die moderne Medizin ist heute in der Lage, schwerste Verletzungen gezielt zu behandeln und die volle Funktionsfähigkeit verletzter Körperteile wiederherzustellen. So können Unfallopfer oft rasch und vollständig wieder in den Lebens- und Arbeitsprozess eingegliedert werden.

Knieoperation
AdobeStock/edwardolive

Wichtige Meilensteine in der Behandlung von schwer- und schwerstverletzten Patientinnen  und Patienten stammen aus der sogenannten Traumaforschung, die sich im Wesentlichen mit der Entstehung und Therapie von Verletzungen und Wunden beschäftigt. Internationale Pionierarbeit auf diesem Gebiet wird in heimischen Forschungslaboratorien geleistet, allen voran dem Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie (LBI Trauma). Das Institut ist Teil des Forschungszentrums für Traumatologie der AUVA und sorgt dafür, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse rasch dorthin kommen, wo sie auch gebraucht werden: bei der Patientin bzw. dem Patienten.

Das LBI Trauma hat sich zu einer zentralen Drehscheibe von Forschungsprogrammen und -kooperationen entwickelt und ist mit dem hohen Praxisbezug einzigartig in der Community. Einerseits werden selbst Forschungen durchgeführt, andererseits werden internationale Forschungsergebnisse in klinischen Studien auf ihre praktische Anwendung in der AUVA überprüft. Die im Institut durchgeführten Forschungsprojekte lassen sich im Wesentlichen in die zwei großen Arbeitsgebiete Intensivmedizin und Geweberegeneration aufteilen. Außerdem stehen im LBI verschiedene Kompetenzzentren zu neuesten biomedizinischen Technologien und Verfahren zur Verfügung.

Dichtes Netzwerk der Forschung

„Mit unserer Arbeit sind wir längst nicht nur im theoretischen Elfenbeinturm, sondern arbeiten hautnah mit, wenn es darum geht, Leben zu retten und die Lebensqualität von Traumapatientinnen und -patienten zu verbessern“, sagt Univ.-Prof. Dr. Heinz Redl, Institutsleiter des Traumazentrums Wien am Standort Lorenz Böhler, und ergänzt: „Durch eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit präklinischer und klinischer Expertenteams gehen gesicherte Ergebnisse aus der Grundlagenforschung rasch und direkt in die Anwendung über und kommen speziell Unfallpatienten zugute.“ Damit versorgt das LBI Trauma einerseits die vier AUVA-Unfallkrankenhäuser und das Traumazentrum Wien mit ihren insgesamt sieben Standorten und vier Rehabilitationszentren der AUVA und andererseits den allgemeinen Traumabereich mit den Ergebnissen seiner Forschung und Entwicklungen.

Am Standort Lorenz Böhler im 20. Wiener Gemeindebezirk hat auch die „Trauma Care Consult“ ihren Sitz, die 1998 gegründet wurde, um das LBI bei seiner wissenschaftlichen Arbeit zu unterstützen. Im Jahr 2003 folgte ein weiterer Ausbau: In Linz wurde eine Außenstelle eingerichtet, die sich der Gewinnung und Erforschung von humanen adulten Stammzellen widmet. Sie wird in Kooperation mit der Blutbank des oberösterreichischen Roten Kreuzes betrieben.

Portrait Univ.-Prof. Dr. Heinz Redl
Univ.-Prof. Dr. Heinz Redl, Institutsleiter des Traumazentrums Wien am Standort Lorenz Böhler R.Reichhart
Portrait Prim. Dr. Thomas Hausner
Prim. Dr. Thomas Hausner, Ärztlicher Leiter am Traumazentrum Wien, Standort Lorenz Böhler R. Reichhart

Patientennutzen im Vordergrund

Im Jahr 2006 wurde der österreichische Forschungscluster für Geweberegeneration gegründet. „Hier werden Erfahrungen zwischen wissenschaftlichen Institutionen ausgetauscht und wird gemeinsam an neuen Erkenntnissen gearbeitet, um das Thema der Geweberegeneration voranzubringen“, erklärt Redl. Gründungsmitglieder waren damals das Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie, Forschungsgruppen der medizinischen Universität Wien, der Bernhard Gottlieb Universitätszahnklinik (seit 2016 umbenannt in Universitätszahnklinik Wien) und das Oberösterreichische Rote Kreuz. „Der Cluster umfasst mittlerweile 24 Gruppen aus elf führenden Forschungsinstitutionen in ganz Österreich. Ziel ist der Aufbau eines breit gefächerten Wissensnetzwerks zum besseren Verständnis der Regeneration von Weichteilen, Knorpeln, Sehnen, Bändern, Knochen und Nerven. Auf diesem Wissen aufbauend, kann die Therapie unterstützt und die Behandlung verbessert werden“, führt Redl aus.

Der Cluster bündelt die Arbeit von experimentellen und klinischen Expertinnen und Experten für die Regeneration von Knochen, Gelenken und Nerven sowie von Spezialisten bildgebender Verfahren. „Ergänzt wurden die Forschungsansätze immer wieder um aktuelle Entwicklungen, wie zum Beispiel den 3D-Druck mit Photopolymeren, die Zellsortierung und Immortalisierung, aber auch die Simulierung“, gibt der Institutsleiter Einblick. Dass für diese Forschungsarbeit nicht nur Medizinerinnen und Mediziner gefragt sind, liegt auf der Hand. Das Team der Traumaforschung rund um die AUVA ist interdisziplinär aufgestellt und besteht unter anderem aus Fachleuten der Biochemie, Chemie, Biophysik, Molekularbiologie, Biotechnologie, Elektronik oder Veterinärmedizin.

Kreuzband aus Seidenfaser
Das Kreuzband aus der Seidenfaser wurde bereits präklinisch als Ersatzmaterial erprobt LBI

Kreuzband aus Seidenfasern

Damit die Forschungsergebnisse auch marktfähig werden, haben sich mittlerweile zahlreiche Firmen am Cluster beteiligt oder sind sogar aus der Zusammenarbeit heraus gegründet worden, wie etwa LipoRegena, die Fett und die darin enthaltenen regenerativen Zellen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, oder der 3D-Druck-Experte Lithos. Jüngstes Mitglied ist MorphoMed, deren wichtigster „Mitarbeiter“ wohl die Seidenspinnerraupe Bombyx mori ist. Sie baut ihren Kokon aus einer einzelnen Seidenfaser, die über außerordentliche Zugfestigkeit verfügt. „Die Faser besteht aus Faserproteinen, die von einer Sericin-Schicht umgeben sind. Diese äußere Schicht kann zu Immunreaktionen führen und muss für die medizinische Anwendung entfernt werden. Das hat bisher zu Einbußen bei der mechanischen Belastbarkeit geführt. In Zusammenarbeit mit dem FH Technikum Wien haben die LBI-Forscher daher ein Verfahren entwickelt, das besonders schonend für die Faser ist und die Stabilität erhält“, erläutert Redl. Damit lassen sich höchst komplexe Strukturen bilden, wie etwa ein Kreuzband aus Seide. „Der Riss des vorderen Kreuzbandes ist nicht nur die häufigste Bandverletzung des Knies, sondern auch die häufigste klinisch relevante Verletzung des Knies überhaupt. Das Kreuzband aus der Seidenfaser wurde bereits präklinisch als Ersatzmaterial erprobt“, präsentiert Prim. Dr. Thomas Hausner, Ärztlicher Leiter am Traumazentrum Wien am Standort Lorenz Böhler, den Erfolg. Die Ergebnisse sind vielversprechend: Das Seidenkreuzband ermöglicht sofort volle Belastbarkeit und wird vom Körper nach und nach in körpereigenes Gewebe umgewandelt.

Nervenregeneration im Fokus

Für Patientinnen und Patienten mit Rückenmarksverletzungen gibt es neben der Rehabilitation nur wenige Behandlungsmöglichkeiten. Im Rahmen des Projekts „Wings for Life“ wird der Einfluss der extrakorporalen Stoßwellentherapie in der subakuten und chronischen Phase von Rückenmarksverletzungen getestet. „Die Ergebnisse im präklinischen Modell sind vielversprechend“, weiß Redl. Jetzt geht es im Rahmen der ersten klinischen Studie an die Behandlung von Patientinnen  und Patienten. „Wir erhoffen uns sehr viel davon, denn in bisherigen Studien brachte die Stoßwellentherapie eine verbesserte Regeneration und eine Modulation von Entzündungsprozessen in verschiedenen Geweben, darunter auch im Nervengewebe“, so der Institutsleiter.

Experimentelle und klinische Studien widmen sich derzeit auch der Frage, was die Regeneration von lädierten peripheren Nerven begünstigt und wie sich die mikrochirurgische Nervennahttechnik verbessern lässt. Auch hier könnte Seide die Antwort sein. „Bei Verletzungen eines Nervs mit Gewebsverlust ist ein chirurgischer Eingriff nötig, um die Kontinuität des Nervs wiederherzustellen. Man kann ihn nicht einfach wieder zusammennähen, sondern braucht ein autologes Nerventransplantat. Konkret heißt das: Ein anderer, meist sensorischer Nerv muss durchtrennt werden, um als Überbrückung für den geschädigten Nerv zu fungieren“, beschreibt Redl den Prozess. Das hat zwei gravierende Nachteile: Erstens gibt es nur ein beschränktes Reservoir an Spendernerven, zweitens kommt es in diesem Bereich zu einem Sensibilitätsverlust.

Eine künstlich hergestellte Nervenleitschiene, ein sogenanntes Conduit, kann als Alternative dienen. Am LBI wurde ein neuartiges Conduit aus Seidenfibroin entwickelt. Es besitzt die erforderlichen physikalischen und biologischen Eigenschaften, um die Regeneration eines Nervs zu unterstützen. Das Seidenconduit wird im präklinischen Modell bereits erfolgreich eingesetzt und stetig weiterentwickelt. So konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass das Einbringen von definierten Poren die Versorgung des regenerierenden Nervs verbessert. Dies könnte vor allem zur Überbrückung von langen Nervendefekten von Vorteil sein.

Ein Nerv für zwei Funktionen

Verletzungen der peripheren Nerven, insbesondere komplexe Verletzungen des Arm-Nerven-Geflechtes, führen zu schwerwiegenden funktionellen Beeinträchtigungen der Patientin bzw. des Patienten. „Nach schweren Schädigungen wird der in der Läsion gelegene Anteil einer Nervenfaser abgebaut. Von diesem Nervenstumpf ausgehend kann eine neue Nervenfaser in den peripheren Nervenstumpf aussprossen. Hat man keinen zur Regeneration notwendigen zentralen Nervenstumpf mehr zur Verfügung, kann man auf unverletzte Nerven zurückgreifen. Deren Funktion geht dabei allerdings verloren“, beschreibt Redl die Herausforderung.

Mittels einer mikrochirurgischen Technik, die am LBI entwickelt wurde, kann nun die Funktion des Spendernervs erhalten werden. Der periphere Nervenstumpf des geschädigten Nervs wird dabei an die Seite des funktionierenden Nervs „genäht“. Die Nervenfasern des gesunden Nervs sprossen nun in den peripheren Nervenstumpf ein und reanimieren so die ursprüngliche Funktion. Ein Nerv steuert nun zwei Funktionen. Diese Erkenntnisse werden bereits in klinische Anwendungen umgesetzt.

Virtuelle Sensibilität

Die Traumaforscher am LBI gehen derzeit auch der Frage nach, wie die Plastizität des Gehirns genutzt und verstärkt werden kann, um die Folgen von peripheren Nervenschädigungen auszugleichen. „Wenn das Gehirn keine Signale mehr von einem verletzten Körperareal bekommt, zum Beispiel der Hand, gerät dieses Gebiet in Vergessenheit und wird nicht benutzt. Ist der Nerv einige Monate nach der Verletzung wieder in das Versorgungsgebiet eingewachsen, muss das Gehirn wieder lernen, die erneut ankommenden Signale zu verarbeiten. Dieser Prozess ist langwierig, mühsam und hat meist nur geringen Erfolg“, beschreibt Redl.

Über audiovisuelles Feedback, indem Berührung hör- und sichtbar gemacht wird, soll dem Gehirn beigebracht werden, das beschädigte Areal nicht zu vergessen – solange bis der Nerv in dieses Gebiet wieder eingewachsen ist. Mithilfe von speziell entwickelten Spielen wird die Compliance und Motivation der Patientinnen und Patienten während der Therapie erhöht. Die Rehabilitation von Verletzungen der peripheren Nerven in den oberen Extremitäten wird dadurch beschleunigt und wesentlich vereinfacht.

Arzt zeigt Stoßwellentherapie
In bisherigen Studien brachte die Stoßwellentherapie eine verbesserte Regeneration und eine Modulation von Entzündungsprozessen in verschiedenen Geweben, darunter auch im Nervengewebe. LBI
Modell eines Knies
Der Riss des vorderen Kreuzbandes ist nicht nur die häufigste Bandverletzung des Knies, sondern auch die häufigste klinisch relevante Verletzung des Knies überhaupt. Johannes Brunnbauer

Akute Blutungen stoppen

Gefäße transportieren das Blut vom Herzen in den Körper und leiten die Gewebeflüssigkeit wieder ab. Endothelzellen, die das Innere dieses röhrenförmigen Systems im Körper auskleiden, wiegen zusammen etwa ein Kilogramm, und alle Gefäße in einer Linie aneinandergereiht könnten die Erde zweimal umspannen. Das Team um den Forscher Mag. Dr. Wolfgang Holnthoner widmet seine Aufmerksamkeit den grundlegenden Funktionen dieser Endothelzellen sowie der Neubildung und dem Wachstum von Blut- und Lymphgefäßen. Ziel ist es, dafür Strategien zu entwickeln, die in der Klinik angewendet werden können, wie etwa künstlich erzeugte Gefäßstrukturen und die Regeneration von bereits existierenden Blut- und Lymphgefäßen.

Blut steht auch im Mittelpunkt eines weiteren Forschungsvorhabens: „Schwerverletzte haben meist viel Blut verloren und entwickeln im Laufe der Unfallheilbehandlung eine Blutgerinnungsstörung mit unterschiedlichen Ursachen. Etwa 25 Prozent aller Schwerverletzten zeigen schon bei der Aufnahme in den Schockraum Gerinnungsstörungen“, erklärt Hausner. Im Bereich Blutgerinnung gilt die Forschung der AUVA am LBI Trauma nicht nur als zeitgemäß, sondern als richtungsweisend. „Wird ein Mangel an Blutbestandteilen erkannt und in Verbindung mit anderen Warnzeichen aus dem Labor als kritisch eingestuft, können wir sofort reagieren. Dazu werden noch im Schockraum Messungen durchgeführt, um die Behandlung umgehend anpassen zu können“, sagt der Ärztliche Leiter. Das Ziel der Forschung im Bereich Hämostase ist es, die mit einem Trauma verbundenen Blutungen zu stoppen. „Kommt es bei operativen Eingriffen und Wundversorgungen zu akuten Blutungen, bedarf es einer raschen Intervention. Eine gezielte, effektive und sachgerechte lokale Blutstillung kann im Fall des Falles lebensrettend sein“, erklärt Redl. Moderne blutstillende Produkte ermöglichen hier eine rasche Kontrolle der Blutung und eine Reduzierung des Blutverlustes. Sie sind in der Lage, selbst größere Gewebedefekte in kürzester Zeit effizient zu verschließen. Lokal oder systemisch wirkende Methoden werden am LBI Trauma untereinander verglichen und weiterentwickelt und in Zusammenarbeit mit der heimischen Industrie laufend weiterentwickelt.

Weitere Informationen über das Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie (LBI Trauma) findet man im Internet unter trauma.lbg.ac.at

Zusammenfassung

Zahlreiche Forschungsanstrengungen in der Medizin haben eine möglichst rasche und vollständige Wiederherstellung verletzter Körperteile zum Ziel. Federführend ist dabei das Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie (LBI Trauma). Das Institut ist Teil des Forschungszentrums für Traumatologie der AUVA und sorgt dafür, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse rasch dorthin kommen, wo sie auch gebraucht werden: bei der Patientin bzw. dem Patienten.


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