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Arbeitspsychologie

Happy Birthday! 10 Jahre Evaluierungpsychischer Belastung

Mit 1. Jänner 2013 trat eine Novelle des ASchG in Kraft. In ihr wurde die Verpflichtung zur „Evaluierung psychischer Belastungen“ verankert. Anlässlich dieses „Jubiläums“ hat die AUVA Interviews mit Fachleuten von Institutionen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Polen geführt, um unterschiedlichen Perspektiven dieser Evaluierung nachzugehen und eine Artikelserie zu gestalten. Dies ist Teil 1 der Serie.

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In Österreich und Deutschland ist die Verpflichtung von Arbeitgeber:innen zur Evaluierung (bzw. Gefährdungsbeurteilung) psychischer Belastung seit 1. Jänner 2013 ausdrücklich im ArbeitnehmerInnenschutz- bzw. Arbeitsschutzgesetz verankert. Im Austausch mit Fachleuten aus weiteren europäischen Ländern wird jedoch deutlich, dass sich die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen unterscheiden. Die Wichtigkeit der gesetzlichen Grundlage an sich wird nicht nur durch Ergebnisse des aktuellen ESENER-Berichts (2019) der europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz klar – auch die Interviewpartner:innen sehen die „gesetzlichen Auflagen“ an der Spitze der Gründe, warum sich Betriebe mit Fragen zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit beschäftigen.

Zofia Mockałło und Dorota Żołnierczyk-Zreda (CIOP-PIB) berichten, dass aktuell in Polen keine explizite Nennung psychosozialer Risiken im Gesetz existiere, sondern lediglich die Verpflichtung des Arbeitgebenden angeführt werde, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu gewährleisten. Ohne diese gesetzliche Basis sei der Erfolg von Bemühungen auf betrieblicher Ebene stark von dem Interesse der Arbeitgebenden abhängig. 

Die Vermeidung von Bußgeldern ist unter den Interviewten (gemeinsam mit der „Wahrung des Rufes des Unternehmens“) an nächstwichtigster Stelle. Noortje Wiezer (TNO) stellt klar, dass in den Niederlanden das Arbeitsinspektorat nicht ausreichend personelle Ressourcen habe, sodass die Wahrscheinlichkeit für Unternehmen hinsichtlich der Durchführung dieser Evaluierung kontrolliert zu werden, sehr gering sei. Arbeitgebende haben jedoch nach niederländischem Recht die Verpflichtung, die Lohnfortzahlung (Anmerkung der Autorin: 70 %) für Beschäftigte, die beispielsweise aufgrund von Burnout im Krankenstand sind, für zwei Jahre zu übernehmen – dies seien enorme Summen.

Die eingeschätzte Effektivität trübt die Feierlaune

Ein „Befriedigend“ nach Schulnotensystem erreicht die Bewertung der Effektivität dieser Evaluierung auf internationaler Ebene in den durchgeführten Interviews. Genannte Gründe für die „Punkteabzüge“ sind das häufige Fehlen eines Gesamtkonzeptes und Mängel in der Maßnahmenumsetzung. 

In der Praxis entpuppt sich die vermeintlich effizienteste Methode – eine Fragebogenerhebung – als zeitintensiver als erwartet. Insbesondere der Einsatz eines branchen- und tätigkeitsunspezifischen Verfahrens ist nicht ausreichend, um ein exaktes Abbild der Tätigkeit mit den relevanten Problembereichen zu erstellen. Der alleinige Einsatz von unspezifischen Kurzfragebögen ist daher im Methodenvergleich nur der vermeintliche Sieger hinsichtlich der Effizienz – die Gratwanderung zwischen Qualitätsanspruch, Ressourceneinsatz und anzustrebendem Ergebnis im Sinne von verbesserten Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer:innen bleibt bestehen. 

So betonen auch die Interviewten die Sinnhaftigkeit von Fokusgruppen, um quantitative Daten mit qualitativen Details aus dem Arbeitsalltag und optimalerweise mit Lösungsideen anzureichern. Noortje Wiezer findet den Ansatz „DIY (Do it yourself)“ für den Arbeitsalltag interessant: Zum Start der „Ist-Analyse“ erstellen Mitarbeiter:innen Listen der wichtigen Risiken (Belastungen, die zu Fehlbeanspruchungen führen) an ihren eigenen Arbeitsplätzen, die im weiteren Evaluierungsprozess bearbeitet werden, wobei zum Abschluss die Qualität des gesamten Evaluierungsprozesses durch externe Fachleute bewertet wird.

Notwendige Maßnahmen im Sinne der Primärprävention

Marlen Cosmar (IAG/DGUV, Deutschland) formuliert eine zentrale Frage, die in der Praxis als „Prozessevaluation“, die optimalerweise während einer Evaluierung stets läuft, nicht immer gestellt wird: War die gewählte Methode geeignet, um notwendige Maßnahmen abzuleiten? Damit richtet sich der Fokus auf die alltägliche Arbeitstätigkeit, für die Verbesserungen gefunden und umgesetzt werden sollen.

Bezogen auf die Effektivität merkt weiters David Fishwick (HSE, Großbritannien) an, dass entsprechende Managementstandards und Richtlinien veröffentlicht sind, aber Erhebungen zeigen, dass „Stress weiter zunimmt und die Probleme noch nicht korrigiert sind.“ Diese negative Entwicklung betrifft beispielsweise die Themen „Zeitdruck“, „schlechte Kommunikation bzw. Zusammenarbeit innerhalb der Organisation“, „Umgang mit schwierigen Kunden und Kundinnen, Patienten und Patientinnen, Schülern und Schülerinnen“ und „lange oder unregelmäßige Arbeitszeiten“, die durch Vergleiche von Daten aus den Jahren 2014 und 2019 (vgl. ESENER, 2019) beobachtbar ist.

Auf europäischer Ebene hat sich weiters gezeigt, dass es seit der COVID-19-Pandemie für die Mehrheit der Befragten einfacher ist, sich über Stress und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz auszutauschen (vgl. OSH Pulse – Flash Eurobarometer, 2022). Auch Depression, Angst und Burnout seien nun Themen, über die Menschen sprechen wollen, stellen Zofia Mockałło und Dorota Żołnierczyk-Zreda fest. Möglicherweise soll und kann dies ein Anlass sein, die Wichtigkeit von strukturierter Primärprävention im Bereich der psychischen Gesundheit (im Sinne des Arbeitnehmer:innenschutzes) zu betonen. 

Ebenso beobachtet Marlen Cosmar, dass die psychische Gesundheit aktuell deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalte – ausgelöst durch den Fachkräftemangel in Unternehmen. Vincent Grosjean (INRS, Frankreich) ergänzt, dass Arbeitgebende schon aus diesem pragmatischen Grund Arbeitsbedingungen verbessern müssen.

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Die Rolle von Fachleuten – (k)ein Schreibtischjob?

Belastungsermittlungen sollten nicht in einem Besprechungsraum stattfinden, betont David Fishwick – es sei wichtig, dass sie an dem zu analysierenden Arbeitsplatz stattfinden. 

Neben dieser Praxisorientierung scheint eine „evidenzbasierte Vorgehensweise“ von Bedeutung: so stellt Noortje Wiezer klar, dass die Verwendung von Fragebögen ohne anschließende Maßnahmen die Situation verschlimmert. Diese Feststellung gilt auch in Bezug auf „die falschen Maßnahmen“. Evaluierungsabläufe, in denen aus verhältnisorientierten Fragestellungen rein verhaltensorientierte Maßnahmen entwickelt werden, beinhalten Themenverfehlungen. Auch wenn die Durchführung dieser Evaluierung mit rein firmeninternen Ressourcen abgedeckt wird, betont David Fishwick, dass sich Verantwortliche in Betrieben „…nie scheuen [sollten], professionellen Rat einzuholen.“ 

Dabei geht es aber nicht nur um die Beratung zu „dem passenden Verfahren“, sondern, wie Marlen Cosmar betont, um die Kompetenz der Beratenden, Unternehmen darin zu begleiten, diese Evaluierung prozesshaft zu implementieren und nicht nur punktuell zu arbeiten, idealerweise das gesamte Management miteinzubinden. Verantwortlichkeiten für den Prozess und die Vorgehensweise, wie mit Maßnahmen umgegangen wird, müssen am Anfang stehen und in Strukturen eingebunden sein.

Wohfühl-Angebote alleine lösen keine Probleme

Aus den Interviews wird deutlich, dass betriebliche Verantwortliche bei der „Maßnahmenumsetzung“ am häufigsten Unterstützung benötigen. Vincent Grosjean merkt an, dass manchmal viel Zeit in die Ermittlung von Belastungen investiert wird, danach jedoch nichts passiert. David Fishwick ergänzt, “the intervention ‘Beer on Friday Evening’ is not enough” (Anm. d. Red.: Die Intervention „Freitagabend-Bier“ ist nicht genug). Er meint damit, dass die Ursachen der ermittelten Probleme verstanden werden müssen – dies ist nicht der Fall, wenn lediglich Wohlfühl-Angebote implementiert werden. 

Die Tabelle 1 zeigt eine deutlich unterschiedliche Priorisierung: Während die meisten Betriebe (über 250 Mitarbeiter:innen) „vertrauliche Beratungsangebote für Beschäftigte“ als Maßnahme zur Prävention von psychosozialen Risiken melden, sehen die befragten Fachleute nach Wichtigkeit gereiht die „Neuorganisation der Arbeit, Arbeitsdruck verringern“ an der Spitze – ein weiterer Hinweis für die Notwendigkeit von Beratung und fachlicher Begleitung, dem Vorrang des „kollektiven Gefahrenschutzes vor dem individuellen“ (vgl. ASchG § 7) nachzukommen.

Austausch über Grenzen hinweg

Zofia Mockałło und Dorota Żołnierczyk-Zreda weisen auf den Bedarf hin, bewährtes Wissen über das Arbeiten an Toolboxen und Berichten von „Good Practices“ zu teilen: Welche Maßnahmen können in welchen Branchen und in welchen Betriebsgrößen hilfreich sein? Man dürfe weiters kleine Unternehmen mit geringen Ressourcen nicht vergessen. Außerdem nehmen sie einen großen Handlungsbedarf in Bezug auf ein integratives Arbeitsumfeld hinsichtlich körperlicher und psychischer Gesundheitsprobleme wahr. 

Einen weiteren Themenschwerpunkt sieht Marlen Cosmar im Bereich Homeoffice – hier gelte es die mittel- und langfristigen Folgen, insbesondere negative Entwicklungen zu beachten. Es zeigt sich seit Beginn, auch auf internationaler Ebene, dass der Begriff „psychische Belastung“ im Unterschied zu „psychischer Beanspruchung“ (im Englischen die Begriffe „stress & strain“) für diese Evaluierung unglücklich gewählt ist. Eine Alternative, die zu dem jetzigen Zeitpunkt zumindest als Klärungshilfe nützlich sein könne, formuliert Marlen Cosmar als „Anforderung an Denken & Handeln“. An Definitionen rund um „Stress & Wohlbefinden“ zu arbeiten und noch mehr qualitativ hochwertige Daten im Forschungsbereich der „psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz“ zu sammeln, zeigen sich die Interviewten interessiert. “Not everything is known to others” – auch Noortje Wiezer bestätigt den weiteren Bedarf an Austausch. Als Motivation und Erinnerung für Arbeitgebende findet in den Niederlanden beispielsweise jährlich die vom Sozialministerium initiierte und von TNO unterstützte Woche des arbeitsbedingten Stresses statt.

1.507 Interessierte in Seminaren der AUVA

Ob das Webinar „Evaluierung psychischer Belastung kompakt“, das 2-tägige Seminar „Einschulung in die ABS Gruppe“ oder der Online-Einblick in das jüngste Erhebungsverfahren der AUVA „EVALOG – Evaluierung im Dialog“ – über 1.500 interessierte Teilnehmende konnten bisher ihr Wissen und Können für die Umsetzung dieser Evaluierung erweitern.

Dazu kommen firmeninterne Seminare und Schulungen sowie Betriebsberatungen der Arbeitspsychologen:-psychologinnen der AUVA zu diesem Thema. Diese Angebote werden selbstverständlich weitergeführt und sind über die AUVA-Schulung bzw. über auva.at/arbeitspsychologie abrufbar.

Weitere Inhalte der geführten Interviews werden in kommenden Artikeln der Reihe „Happy Birthday – 10 Jahre Evaluierung psychischer Belastung“ veröffentlicht.

Save the Date!

Festveranstaltung „10 Jahre Novelle ASchG – Evaluierung psychischer Belastung“

Am 26. September 2023 findet die Festveranstaltung im BIZ der Arbeiterkammer Wien (Theresianumgasse 16–18, 1040 Wien) statt. Arbeitspsychologen:-psychologinnen der AUVA-Hauptstelle, der Arbeiterkammer und des Zentralarbeitsinspektorates organisieren für Interessierte eine Sammlung an Erinnerungen über die Entstehungsund Anfangsphase der „psychischen Belastung“ in Österreich, Aktuelles zum heutigen Stand und einen Gedankenaustausch über Künftiges.

Quellen:

[1] Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz: ESENER 2019. Was lernen wir daraus über Sicherheit und Gesundheit in Europas Betrieben? Luxemburg, 2021.

[2] OSH Pulse – Flash Eurobarometer, 2022: https://osha.europa.eu/de/facts-andfigures/ osh-pulse-occupational-safetyand- health-post-pandemic-workplaces Zugriff am 13.2.2023

Zusammenfassung

Die Autorin führte anlässlich des Jubiläums „10 Jahre Evaluierung psychischer Belastungen“ (ASchG Novelle) Interviews mit Fachleuten aus europäischen Ländern. Darin zeigte sich, dass es Unterschiede in den rechtlichen Rahmenbedingungen gibt. Darüber hinaus wurde der Stellenwert von „gesetzlichen Auflagen“, wie etwa dem ASchG deutlich, wenn es darum geht, ob Betriebe sich mit Fragen zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit beschäftigen. Teil 2 der Artikeserie zu 10 Jahren Evaluierung psychischer Belastung erscheint in der kommenden Ausgabe von SICHERE ARBEIT. 

Die Interviewten:

Dr. Marlen Cosmar (IAG, DGUV, Deutschland)
Prof. Dr. David Fishwick (HSE, Großbritannien)
Vincent Grosjean, PhD (INRS, Frankreich)
Zofia Mockałło, M.Psych. (CIOP-PIB, Polen)
Dr. Noortje Wiezer (TNO, Niederlande)
Prof. Dr.hab. Dorota Żołnierczyk-Zreda (CIOP-PIB, Polen).

 

Maßnahmen zur Prävention von psychosozialen Risiken  
 Häufigkeit der Meldung durch die befragten Unternehmen (vgl. ESENER, 2019)Priorisierung der interviewten Fachleute
1.Vertrauliche Beratungsangebote für Beschäftigte
Neuorganisation der Arbeit, Arbeitsdruck verringern
2.Schulung zur KonfliktlösungEingreifen bei übermäßig langen oder unregelmäßigen Arbeitszeiten
3.Ermessensspielraum für Beschäftigte bei der Ausübung ihrer TätigkeitErmessensspielraum für Beschäftigte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit
4.Neuorganisation der Arbeit, Arbeitsdruck verringernSchulung zur Konfliktlösung
5.Eingreifen bei übermäßig langen oder unregelmäßigen ArbeitszeitenVertrauliche Beratungsangebote für Beschäftigte

Tabelle 1: Maßnahmen zur Prävention von psychosozialen Risiken


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