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Notfallpsychologie

Extremsituationen im beruflichen Alltag – Wie können wir damit umgehen?

Kritische Ereignisse, Notfallsituationen oder auch Gewalt haben oft massive Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit von Menschen und können damit auch die Arbeitssicherheit negativ beeinflussen. Im betrieblichen Umfeld ist daher eine entsprechende Notfallplanung empfehlenswert.

Das Bild zeigt einen am Boden liegenden verunfallten Bauarbeiter
Adobe Stock

Naturkatastrophen, ein schwerer Verkehrsunfall oder der plötzliche Tod eines geliebten Menschen können eine sehr belastende Extremsituation darstellen.

Im beruflichen Alltag kann jede Person von kritischen Ereignissen bis hin zu plötzlich auftretenden Notfallsituationen betroffen sein. Ein Arbeitsunfall, bei dem Mitarbeitende sich schwer verletzen, oder der sogar tödlich verläuft, kann uns „aus den Angeln heben“. 

Naturkatastrophen, schwere Unfälle und unerwartete Todesfälle haben gemeinsam, dass sie von einem Moment auf den anderen in unser Alltagsleben hereinbrechen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es vorher war. 

Auch gewalttätige Übergriffe oder eine Gewaltandrohung können massive körperliche sowie psychische Auswirkungen haben. Selbst Mitarbeiter:innen mit viel Praxis und Routine können die Erfahrung machen, dass bestimmte Ereignisse und die damit verknüpften Bilder immer wieder in ihrer Erinnerung auftauchen und bisherige Bewältigungsstrategien gegen Stressreaktionen nicht ausreichen, um das Erlebte zu verarbeiten.

Lasogga und Gasch, zwei Pioniere der Notfallpsychologie, halten fest: „Notfälle sind Ereignisse, die aufgrund ihrer subjektiv erlebten Intensität physisch und/oder psychisch als so beeinträchtigend erlebt werden, dass sie zu negativen Folgen in der physischen und/oder psychischen Gesundheit führen können.“ [1]

Traumatische Erlebnisse sind dermaßen überwältigend, dass sie nicht so verarbeitet werden können wie alltägliche Geschehnisse.

Die Psyche des Menschen ist grundsätzlich imstande, das Erleben von belastenden Ereignissen zu bewältigen. Wie gut wir jedoch potenziell traumatisierende Ereignisse verarbeiten, hängt von der unmittelbaren individuellen Betroffenheit und den zum Zeitpunkt gegebenen Bewältigungsmechanismen ab. Soziale Unterstützung im privaten und beruflichen Umfeld trägt ganz wesentlich zur Stabilisierung bei.

Traumatisierungsgefahr durch Unfälle

Unter den bei der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) versicherten unselbständig Erwerbstätigen gab es im Jahr 2020 insgesamt 73 837 Unfälle, davon waren 65 823 Arbeitsunfälle im engeren Sinn und 8 014 Wegunfälle.

77 Personen kamen bei Arbeitsunfällen bedauerlicherweise ums Leben. 49 tödliche Arbeitsunfälle waren unmittelbar auf die Arbeit zurückzuführen, 28 Arbeitsunfälle sind auf dem Weg zu bzw. von der Arbeit (sogenannte Wegunfälle) passiert. 

Nach Wirtschaftsbereichen geordnet, traten Arbeitsunfälle am häufigsten in folgenden drei Branchen auf:

  • 22,7 % Bau (14 712)
  • 22,1 % Herstellung von Waren (14 553)
  • 15,2 % Handel (10 027)

Arbeitsunfälle im engeren Sinn (ohne Wegunfälle) mit tödlichem Ausgang traten insbesondere in folgenden Branchen auf:

  • 18,4 % Bau
  • 26,5 % Herstellung von Waren
  • 6,1 % Handel

Die Zahlen der verunfallten Personen und die der Unfälle mit tödlichem Ausgang lagen 2020 unter dem Durchschnitt der Vorjahre. Der Grund dafür liegt in den Lockdowns infolge der Coronapandemie und in der pandemiebedingt höheren Arbeitslosigkeit bzw. der geringeren Beschäftigung aufgrund von Kurzarbeit [2].

Traumatisierungsgefahr durch Gewalt

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) definiert Gewalt am Arbeitsplatz als „jede Handlung, Begebenheit oder von angemessenem Benehmen abweichendes Verhalten, wodurch eine Person im Verlauf oder in direkter Folge ihrer Arbeit schwer beleidigt, bedroht, verletzt, verwundet wird.“ [3]

Interne Gewalt kann durch Kollegen:Kolleginnen oder Vorgesetzte verursacht werden. Externe Gewalt kann von Kunden:Kundinnen, Patienten:Patientinnen bzw. Klienten:Klientinnen ausgeübt werden.

Die Internationale Arbeitsorganisation hat im Juni 2021 das erste internationale Abkommen gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt verabschiedet. Ein gemeinsamer Handlungsrahmen für eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung soll die Basis bilden [4].

Beispiele für Gewalt am Arbeitsplatz [3]:

  • Psychische Gewalt
    • verbale Beleidigungen, Beschimpfungen
    • Unterdrucksetzen, Erpressungen
    • Belästigungen
    • Bedrohen, Einschüchtern
    • Demütigungen und Erniedrigungen
    • soziale Isolation
    • absichtliches Ignorieren
  • Körperliche Gewalt
    • Schlagen
    • Werfen mit Gegenständen
    • Stoßen
    • Beißen
    • körperliches Bedrängen sowie Einschränkung der Bewegungsfreiheit
    • Würgen

Zu körperlichen Übergriffen kommt es vor allem in/bei: 

  • Pflege- und Betreuungseinrichtungen 
  • Krankenhäusern und Rettungsdiensten 
  • Einrichtungen mit Einzel- oder Nachtarbeitsplätzen 
  • Bars, Hotels und Restaurants 
  • Polizei und Sicherheitskräften

Laut Statistik Austria gaben 5 % der Frauen und 3,3 % der Männer 2020 bekannt, von Gewalt oder der Androhung von Gewalt am Arbeitsplatz betroffen gewesen zu sein. Belästigung oder Mobbing erlebten 4,1 % der Frauen und 2,5 % der Männer [5].

Vom Notfall betroffenePersonengruppen

Von einem Notfall betroffen sind nicht nur die unmittelbar beteiligte Personen (wie Unfallopfer), sondern auch der zu diesem Zeitpunkt anwesende Personenkreis sowie Personen aus dem sozialen Umfeld der unmittelbar involvierten Person. Hausmann unterscheidet hierbei drei verschiedene Personengruppen wie folgt [6]:

I. Primär betrifft ein Notfall die daran beteiligten oder unmittelbar involvierten Personen, zum Beispiel verunfallte Mitarbeiter:innen, Betroffene von Gewalterfahrungen.

II. Sekundär sind jedoch auch andere Personen/Mitarbeiter:innen betroffen, die durch das Beobachten des Ereignisses oder durch die Hilfe für die Opfer traumatisiert sein können, insbesondere bei großer räumlicher, persönlicher und emotionaler Nähe, zum Beispiel Kollegen:Kolleginnen der verunfallten Person.

III. Tertiär sind jene betroffen, die durch die Nachricht vom Ereignis traumatisiert werden können, z. B. Familienangehörige, Freunde:Freundinnen, Nachbarn:Nachbarinnen, Arbeitskollegen:-kolleginnen und Vorgesetzte des Opfers.

Je kleiner die Organisation ist und je besser sich die Mitglieder untereinander kennen, desto stärker ist die Betroffenheit auch bei jenen, die persönlich mit dem Notfall nichts zu tun hatten. 

Erleben kritischer Ereignisse

Die Verarbeitung nach einem kritischen Ereignis läuft nach Schottmann & Clemens prozesshaft in Phasen [7].

Schockphase

Nicht immer gibt es sichtbare Anzeichen wie Verletzungen, offene Wunden oder Knochenbrüche nach einem potenziell traumatischen Ereignis. Dennoch können diese Ereignisse Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten der Betroffenen haben, denn sie lösen extremen psychischen Stress bei Menschen aus. Reaktionen wie Schock oder Verleugnung dienen im ersten Moment dazu, Personen vor den emotionalen Auswirkungen des Ereignisses zu schützen. 

Einwirkungsphase

Ist diese erste Phase des Schocks vorbei, setzt die psychische Verarbeitung ein. Die Anpassung an das Erleben einer kritischen Situation gelingt oft nicht in wenigen Stunden. In dieser Phase ist es für Führungskräfte und Verantwortliche wichtig zu wissen beziehungsweise zu erkennen, dass möglicherweise heftige psychophysiologische Beschwerden auftreten können. 

Beispiele für typische Anzeichen vgl. Hausmann [6]:

  • verstärkte Unruhe, erhöhte Nervosität oder Reizbarkeit
  • Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen
  • Wiedererleben des Unfalls in Form von Alpträumen oder sich aufdrängenden Erinnerungen
  • Substanzmissbrauch (z. B. Alkohol und Benzodiazepine)
F. Hutter

Die Reaktionen sind ganz normal und können nach ICD-10-GM Version 2022 als akute Belastungsreaktion diagnostiziert werden: Dabei handelt es sich um „eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt.“ [8]

Erholungsphase

In der anschließenden Erholungsphase lassen Beschwerden nach und die Betroffenen können mit diesen Erfahrungen leben.

Die Reaktionen der Einwirkungsphase zeigen allerdings nicht nur unmittelbar betroffene, sondern wie oben beschrieben, auch sekundär oder tertiär betroffene Mitarbeiter:innen. Unbeachtete psychoreaktive Beeinträchtigungen können negative Folgen für die Arbeitssicherheit haben – etwa wenn Aufmerksamkeitsstörungen vorliegen. Die Angst, eine kritische Situation nochmals zu durchleben oder selbst einen Unfall auszulösen, kann zu Verhaltensänderungen führen. Gewohnte Arbeitsroutinen werden verlassen, was zu Fehlern führt und somit das Gegenteil bewirkt, nämlich unsichere Handlungen, die selbst zu einem Unfallrisiko werden.

Die Bewältigung potenziell traumatischer Ereignisse hängt von den individuellen Strategien der einzelnen Personen ab. Einen weiteren wesentlichen Beitrag leisten die Maßnahmen, die im Unternehmen nach solchen Ereignissen getroffen werden. 

Eine wichtige Unterstützung für Betroffene ist die psychologische Akuthilfe, die in den ersten Stunden nach einem traumatischen Ereignis stattfindet. Sie kann durch speziell geschulte Mitarbeitende des eigenen Betriebs oder das Kriseninterventionsteam erfolgen.

In der Einwirkungsphase unter-stützen Einzel- und Gruppen-gespräche mit Psychologen:Psychologinnen, das Erlebte zu verarbeiten.

Falls einzelne Betroffene weiterhin massive Schwierigkeiten mit der Verarbeitung haben, kann eine individuelle Trauerbegleitung oder eine Traumatherapie weiterhelfen.

Ein Arbeitsunfall, bei dem Mitarbeitende sich schwer verletzen, oder der sogar tödlich verläuft, kann uns aus den Angeln heben

S. Ebner, I. Lanner

Vorbereitung der Unternehmen auf kritische Ereignisse

Wenn Gefährdungen durch potenziell traumatische Ereignisse nicht ausgeschlossen werden können, sind diese Unfallgefahren in der Evaluierung nach § 4 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz zu berücksichtigen. Auch Gewalt kann in Abhängigkeit von der jeweiligen Tätigkeit ein Thema der Evaluierung werden.

Notfallplanung bedeutet, sich auf prinzipiell vorhersehbare Ereignisse vorzubereiten, deren Eintritt unwahrscheinlich, aber jederzeit möglich ist. Die Handlungsfähigkeit in einer kritischen Situation bleibt dabei erhalten, um möglichen Schaden abzuwenden oder den entstandenen Schaden möglichst gering zu halten. Zeitgewinn ist ein entscheidender Faktor der Notfallplanung:

  • Die Planung von Handlungen kann in Ruhe ohne Zeitdruck vor einem Ereigniseintritt stattfinden.
  • Mehr Personen können sich mit ihren Kompetenzen an der Planung beteiligen.
  • Ressourcen können für den Ereignisfall bereitgestellt werden.

LITERATUR

Zusammenfassung

Die Autorinnen beschreiben die psychischen und physischen Auswirkungen von Extremsituationen auf den Menschen und zeigen auf, welche Möglichkeiten die Notfallplanung Unternehmen bietet, um negative Auswirkungen auf die Arbeitssicherheit zu verhindern


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