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AUVA Packen wir's an!

Lastenhandhabung: Wie lassen sich MSE verhindern?

Wie können durch die Manipulation von Lasten verursachte Muskel-Skelett-Erkrankungen verhindert werden? Antworten auf diese Frage gab es bei einer AUVA-Informationsveranstaltung in Graz, die im Rahmen des AUVA-Präventionsschwerpunktes „Packen wir’s an!“ stattfand.

Die AUVA-Informationsveranstaltung „Risikofaktor Lastenhandhabung – Prävention arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen“ am 8. März 2022 in Graz widmete sich einem nicht nur gesundheitlich, sondern auch ökonomisch besonders relevanten Thema. Personen, die häufig schwere Lasten heben, tragen, ziehen oder schieben, weisen eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats auf.

DI Dr. Hannes Weißenbacher
DI Dr. Hannes Weißenbacher

 

Da rund ein Drittel aller Arbeitnehmer:innen regelmäßig mit schweren Lasten hantiert, ist die Anzahl der Gefährdeten groß. Das gilt für unterschiedlichste Be-rufsgruppen, wie DI Dr. Hannes Weißenbacher, Direktor der AUVA-Landesstelle Graz, bei der Eröffnung der Veranstaltung be-tonte: „Muskel-Skelett-Erkrankun-gen betreffen nicht nur das Bau- und das Transportgewerbe, sondern auch Arbeitsplätze, bei denen wir es gar nicht vermuten würden.“ MSE haben oft längere Krankenstände zur Folge, durchschnittlich dauern diese 17 Tage pro Fall. Die dadurch entstehenden Kosten schätzt Weißenbacher österreichweit auf rund eine Milliarde Euro pro Jahr.

Volkskrankheit Rückenschmerzen

In Deutschland beträgt die mittlere Krankenstandsdauer bei MSE knapp 18 Tage, also ähnlich lange wie in Österreich.

Univ.-Prof. DI Dr. Stephan Letzel von der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität sprach in seinem Vortrag von einer „Volkskrankheit Rückenschmerzen“, von der 66 Prozent der Frauen und 56 Prozent der Männer betroffen sind.

Die unterschiedliche Häufigkeit von Rückenerkrankungen in verschiedenen Berufsgruppen legt einen Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit nahe. Die meisten Krankenstandstage entfallen auf Verkehrs- und Lagerberufe, gefolgt von Metallerzeugung und -bearbeitung sowie an dritter Stelle der chemischen Industrie und Kunststoffverarbeitung. Interessant ist, dass Arbeitslose in einem noch größeren Ausmaß von Rückenbeschwerden betroffen sind, was Letzel unter anderem auf den Einfluss psychosozialer Faktoren zurückführt.

Univ.-Prof. DI Dr. Stephan Letzel
Univ.-Prof. DI Dr. Stephan Letzel

MSE haben oft längere Krankenstände zur Folge, durchschnittlich dauern diese 17 Tage pro Fall. Die dadurch entstehenden Kosten werden österreichweit auf rund eine Milliarde Euro pro Jahr geschätzt.

DI Dr. Hannes Weißenbacher

 

Risikofaktoren

Dr. Kurt Leodolter
Dr. Kurt Leodolter

Laut Dr. Kurt Leodolter, MSc, Facharzt für Arbeitsmedizin vom Unfallverhütungsdienst der AUVA-Landesstelle Graz, betrifft der Großteil der arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 43 Prozent den Rücken, dicht gefolgt von den oberen und deutlich vor den unteren Gliedmaßen. Nicht nur körperliche, sondern auch psychosoziale, organisatorische und individuelle Faktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit für Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats. Auch als Folge von Arbeitsunfällen können MSE auftreten.

Damit rechtzeitig Präventionsmaßnahmen gesetzt werden, müssen Arbeitgeber:innen die Risiken erkennen. Eine einfache Möglichkeit, die Hebe- und Tragetechnik einer Person zu analysieren, bietet die App „Heben und Tragen“ der AUVA, die man kostenfrei auf das Smartphone laden kann. Die Gefährdung durch die Handhabung schwerer Lasten sei mittlerweile bekannt, so Leodolter, während das Bewusstsein in anderen Bereichen noch fehlen würde: „Ein großes Problem sind die mittelschweren Lasten, da helfen die Leitmerkmalmethoden bei der Einschätzung.“

Leitmerkmalmethoden

Wie die Leitmerkmalmethoden anzuwenden sind, beschrieb Peter Schams, MSc, von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Berlin: „Zuerst ist festzustellen, welche Belastungsarten an einem Arbeitsplatz vorkommen, um die richtigen Leitmerkmalmethoden zu finden. Es kann sein, dass man die Tätigkeiten in Teiltätigkeiten einteilen muss.“ Insgesamt stehen zur Beurteilung der körperlichen Belastung sechs Leitmerkmalmethoden zur Verfügung: manuelles Heben, Halten und Tragen von Lasten, manuelles Ziehen und Schieben von Lasten, manuelle Arbeitsprozesse, Ganzkörperkräfte, Körperfortbewegung sowie Körperzwangshaltung.

 

Den für die jeweilige Tätigkeit typischen Belastungsfaktoren wie Lastgewicht, Kraftaufwand oder Weglänge wird ein von der Intensität der Belastung abhängiger Punktewert zugeordnet, den man mit einem Wert für die Zeit multipliziert. Übt jemand an einem Arbeitsplatz Tätigkeiten mit verschiedenen körperlichen Belastungsarten aus, ist jede von ihnen extra zu bewerten. Das Ergebnis ermöglicht eine Einstufung jeder Teiltätigkeit in einen von vier Risikobereichen von gering (grün) bis hoch (rot). Bei Risikobereich 4 gilt eine körperliche Überbeanspruchung als wahrscheinlich.

Peter Schams, MSc
Peter Schams, MSc

 

„Wo die höchsten Punktewerte erreicht worden sind, machen Maßnahmen am meisten Sinn“, so Schams. Er sieht den Vorteil der Leitmerkmalmethoden darin, dass sich die Tools einfach anwenden lassen und die körperliche Belastung jeder beruflichen Tätigkeit beurteilt werden kann. Das Ziel sei, Überbeanspruchung zu erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten, um diese zu reduzieren.

Maßnahmen zur Lastenreduktion

 

Woran man sich bei der Auswahl der Maßnahmen orientieren sollte, erklärte DI Michael Wichtl von der Abteilung für Unfallverhütung und Berufskrankheitenbekämpfung der AUVA und Geschäftsführer der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ergonomie (ÖAE): „Grundprinzip für Gestaltungsmaßnahmen zur Lastenreduktion ist das STOP-Prinzip.“ Dieses sieht Substitution vor technischen und organisatorischen und zuletzt personenbezogenen Maßnahmen vor. An erster Stelle steht der Ersatz gesundheitsgefährdender Tätigkeiten, etwa durch Automatisierung. Technische Maßnahmen, die die Lastenhandhabung erleichtern, sind z. B. Hebe- und Tragehilfen wie Hubtische, Hebekräne oder Transportbänder.

DI Michael Wichtl
DI Michael Wichtl

 

Als konkretes Praxisbeispiel, das mit der Leitmerkmalmethode Heben, Halten und Tragen analysiert wurde, nannte Wichtl das Herunterheben von 50 kg schweren Ausschuss-Säcken von der Rollbahn einer Maschine. Die Beschäftigten mussten sich zum Teil weit vorneigen, die Greifbedingungen waren eingeschränkt. Aufgrund der Einstufung in den Risikobereich 4 bestand dringender Handlungsbedarf. Da eine Reduktion des Gewichtes der Säcke auf 25 kg technisch und organisatorisch nicht umsetzbar war, wurde die Anschaffung einer Hebehilfe vorgeschlagen.

Zu den organisatorischen Maßnahmen, die die Belastung durch Heben, Halten und Tragen verringern, zählen das Aufteilen der Last auf mehrere Personen und eine Arbeitszeitgestaltung, die kürzere Schichtdienste mit möglichst langen Ruhezeiten sowie Pausen dazwischen vorsieht. Der alleinige Einsatz von personenbezogenen Maßnahmen zur Verringerung des Risikos durch Lastenhandhabung ist laut Wichtl oft nicht ausreichend. Personenbezogene Maßnahmen sind die letzte Stufe in der Maßnahmenhierarchie und sollten immer in Kombination mit anderen Maßnahmen getroffen werden. Möglichkeiten sind die Verwendung von Tragegerüsten zum Abstützen der Last oder von Exoskeletten.

Exoskelette

Der Frage, inwieweit Exoskelette eine Lösung für die Handhabung schwerer Lasten darstellen können, ging Mag. Norbert Lechner, fachkundiges Organ Ergonomie in der AUVA-Hauptstelle, in seinem Vortrag nach. „Exoskelette haben das Potenzial, Belastungsspitzen zu reduzieren, aber sie werden oft überbewertet oder falsch eingesetzt“, stellte Lechner fest. Das Ziel bei der Verwendung von Exoskeletten dürfe nie eine Leistungssteigerung, sondern müsse vielmehr die Entlastung der Arbeitnehmer:innen sein.

Mag. Norbert Lechner
Mag. Norbert Lechner

Anhand von konkreten Beispielen zeigte Lechner Nutzen und Grenzen von Exoskeletten auf. Im Gerüstbau wurden Exoskelette erprobt, die insbesondere Arbeiten über Schulterhöhe erleichtern sollten. Es zeigte sich, dass die Unterstützung einzelner Muskeln durch das Exoskelett aufgrund der komplexen Bewegungsabläufe insgesamt keine Entlastung brachte. Bei zwei weiteren Beispielen waren technische Maßnahmen der Verwendung von Exoskeletten vorzuziehen: beim Reifenwechsel in einer Autowerkstatt pneumatische Hebehilfen, bei Arbeiten im Kanalnetz ein Kanaldeckelheber.

Als Positivbeispiel präsentierte Lechner die Verwendung von Exoskeletten bei der Morandell International GmbH, die Gastronomie und Fachhandel mit Qualitätsweinen beliefert. In der Logistik führte das Heben zum Teil schwerer Packstücke zur Ermüdung und zu Ausfalltagen aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen. Die beim Heben besonders beanspruchte Rückenstreck-Muskulatur sollte durch ein Exoskelett entlastet werden, was laut

Lechner auch gelang. „Die Beanspruchung konnte um durchschnittlich 14,89 Prozent reduziert werden.“

Montage von Schaltanlagen

Auf eine Kombination mehrerer Maßnahmen zur Prävention von MSE setzt man bei der Siemens AG Österreich in der Niederlassung Graz – Smart Infrastructure Electrification & Automation. Die Mitarbeiter:innen sind sowohl in der Fertigung im Betrieb als auch in der Montage vor Ort tätig. „In der Fertigung wird nach dem Arbeitsprinzip ‚One-Piece-Flow‘ vorgegangen: Ein kleiner Trupp Mitarbeiter:innen wandert mit dem Produkt mit, das bedeutet einen Wechsel zwischen körperlich höherer und geringerer Beanspruchung“, so Mag. Jasmin Pichler, bei Siemens in Graz für Qualitätsmanagement und Environment, Health and Safety Management zuständig.

Weitere Maßnahmen sind der Einsatz von Hebe- und Transporthilfen, etwa Hubtische, Stapler mit Teleskoparm, Materiallifte und Trolleys zum Transport von Werkzeug. Als Alternative zu herkömmlichen Arbeitsschuhen steht ein Modell mit hohem Dämpfungswert zur Auswahl. Auch Beschäftigte können Vorschläge einbringen, betonte Norbert Mayer, Montage- und Werkstättenleiter der Siemens-Niederlassung in Graz: „Sehen Mitarbeiter:innen z. B. auf einer anderen Baustelle Verbesserungen, setzen wir diese um, wenn es sinnvoll ist.“

Mag. Jasmin Pichler
Mag. Jasmin Pichler
Norbert Mayer
Norbert Mayer

AUVAfit Ergonomie

In der Kärntner Evonik Peroxid GmbH, einem Standort des international tätigen Unternehmens der Spezialchemie Evonik Industries AG, wurde im Rahmen von AUVfit Ergonomie ein ganzes Maßnahmenpaket erarbeitet. Ziel war, die Arbeitsbelastung zu minimieren, um arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen und durch diese verursachte Krankenstände zu verhindern. Betreut wurde Evonik von Mag. Roland Grabmüller, MA, fachkundiges Organ Ergonomie vom Unfallverhütungsdienst der Landesstelle Graz. „Ich versuche, einfache, praktische Lösungen zu finden, die nicht viel kosten“, beschrieb Grabmüller seine Vorgehensweise.

„Wir haben einen Mini-Lift dafür adaptiert, PE-Folie in die Folieranlage einzubringen. Davor haben die Mitarbeiter:innen die bis zu 40 kg schweren Folienrollen zu zweit gehoben“, führte Ing. Gerhard Pichler, Sicherheitsfachkraft bei Evonik, eine der Maßnahmen an. Weiters wurden eine Hebehilfe, ein elektrischer Hubwagen und mehrere Scherenhubtische sowie Arbeitspodeste angeschafft. Zur Erhöhung der Arbeitssicherheit brachte man im Innen- und Außenbereich Aufstiegshilfen mit Absturzsicherung an. Auch die Beleuchtungssituation wurde verbessert.

Mag. Roland Grabmüller
Mag. Roland Grabmüller
Ing. Gerhard Pichler
Ing. Gerhard Pichler

Evaluation der Leistungsfähigkeit

Erhöht die Handhabung schwerer Lasten schon für gesunde Arbeitnehmer:innen die Gefahr von Muskel-Skelett-Erkrankungen, ist das Risiko nach einem Unfall noch größer. Vor einer Wiedereingliederung muss daher festgestellt werden, ob der:die Betroffene wieder an den früheren Arbeitsplatz zurückkehren kann. Eine Entscheidungsgrundlage zur Beurteilung der individuellen Arbeitsfähigkeit liefert die „Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit“ (EFL), die in der AUVA-Rehabilitationsklinik Tobelbad durchgeführt wird. „Gegen Ende der Rehabilitation absolviert der:die Patient:in an zwei Vormittagen 29 standardisierte Tests mit Arbeitsbezug. Der Fokus liegt dabei auf der Funktion, es erfolgt keine Beurteilung des Schmerzes“, erklärte Dr. Ursula Kropiunig, Oberärztin in der Rehabilitationsklinik. Getestet werden dabei unterschiedliche Formen des Hebens und Tragens, statische Beanspruchungen, Gangleistung und Fortbewegung, Handgeschicklichkeit und Handkraft. Die Belastung wird dabei bis zum individuellen Maximum gesteigert. Ergänzend erhebt man mittels eines Fragebogens eine Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit.

 

Anschließend werden die Fähigkeiten und Defizite in Bezug auf die bisher ausgeübte Arbeit in einem Bericht dargestellt. Damit kann eine Aussage über die Zumutbarkeit getroffen werden – das heißt, ob der:die Patient:in die Tätigkeiten uneingeschränkt oder in reduziertem Ausmaß durchführen kann bzw. ob er:sie Hilfsmittel dafür benötigt. Auch eine Empfehlung zur Umschulung ist möglich. Der Test, so Kropiunig, sei immer eine Momentaufnahme. Ob bzw. wie rasch jemand wieder die volle Leistungsfähigkeit erlangt, hängt auch von den im Betrieb gesetzten Maßnahmen zum Schutz vor Muskel-Skelett-Erkrankungen ab.

Dr. Ursula Kropiunig
Dr. Ursula Kropiunig

Zusammenfassung

Die Manipulation schwerer Lasten erhöht die Wahrscheinlichkeit für Schäden des Bewegungs- und Stützapparats. Bei der AUVA-Informationsveranstaltung „Risikofak-tor Lastenhandhabung – Prävention arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen“ am 8. März 2022 in Graz wurden Methoden zur Bewertung der Belastung und vorbeugende Maßnahmen präsentiert. Good-Practice-Betriebe stellten ihre Aktivitäten zur Prävention von MSE vor. Die Veranstaltung fand im Rahmen des AUVA-Präventionsschwerpunktes „Packen wir’s an!“ zu arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen statt. (www.auva.at/mse). 


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