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AUVA Packen wir's an!

Psychische Risikofaktoren für MSE

Durch Dauerstress verursachte Verspannungen wirken sich auf den Bewegungs- und Stützapparat aus. Gute Arbeitsbedingungen helfen, Erkrankungen zu vermeiden.

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Stress macht krank – nicht nur psychisch, sondern auch körperlich. Unter Dauerstress stehende Arbeitnehmer:innen haben häufig Verspannungen, die längerfristig zu Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) führen können. Folgen für das Unternehmen zeigen sich schon, bevor vermehrt Krankenstandstage anfallen, so Mag. Irene Lanner, Arbeits- und Organisationspsychologin der AUVA-Landesstelle Salzburg: „Nur ein gesunder Mensch kann leistungsfähig sein.“

Allerdings ist nicht jede Art von Stress schädlich. Positiver Stress, der sogenannte Eustress, spornt den Menschen sogar an, Leistungen zu erbringen. Er fordert, aber überfordert nicht. „Vor einer Präsentation brauche ich eine gewisse Anspannung, um fokussiert und konzentriert bei der Sache zu bleiben“, bringt Mag. Katharina Händler, MBA, Trainerin und zertifizierte Stress-Mentorin beim Forum für Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung „MENSCH IN BEWEGUNG“ (MIB), ein Beispiel aus dem beruflichen Alltag.

Körperliche Stressreaktionen

Stress, so die Trainerin, sei uns von der Natur mitgegeben worden, um unser Überleben zu sichern. Wie das funktioniert, wird im AUVA-Merkblatt M.plus 024 „Arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen“, das auch organisatorische und psychosoziale Risikofaktoren für MSE thematisiert, beschrieben. Stresssituationen rufen körperliche Reaktionen hervor: Atem- und Herzfrequenz steigen, die Muskelspannung erhöht sich, Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet, mehr Energie ist verfügbar. Für unsere frühen Vorfahren erwiesen sich diese Reaktionen als funktional, wenn es darum ging, zu kämpfen oder zu fliehen. War die Gefahr vorbei, setzte Entspannung ein.

Diese durch Stress ausgelösten körperlichen Reaktionen laufen heute immer noch nach dem gleichen Muster ab, allerdings sind in den meisten aktuellen Stresssituationen, etwa Zeitdruck oder Ärger mit Vorgesetzten bzw. Kollegen:Kolleginnen, keine körperlichen Höchstleistungen wie Kampf oder Flucht gefragt. Die muskuläre Spannung wird daher nicht abgebaut, der seinerzeit funktionale Mechanismus wirkt sich oft schädigend auf die Gesundheit aus.

Das gilt vor allem dann, wenn die Stresssituation länger anhält. Der negative Distress ist durch Überforderung und andauernde Überlastung ohne ausreichende Entspannungsphasen gekennzeichnet. „Steht man ständig unter Spannung, kann es zu Beeinträchtigungen des muskulären Systems und des Bewegungsapparats kommen“, betont Lanner. Der psychische Spannungszustand bewirkt nämlich auch eine körperliche Verspannung, insbesondere im Bereich von Nacken, Schultern und Rücken.

Die durch eine Stresssituation verspannte Muskulatur beginnt zu schmerzen, was längerfristig einen Teufelskreis in Gang setzt: Man nimmt eine Schonhaltung ein, wodurch sich die Verspannungen und damit die Schmerzen verstärken. Aus Angst vor dem Schmerz vermeidet man Bewegung, die einen Ausgleich zur verkrampften Haltung bieten würde, und die Schmerzen nehmen weiter zu. Rechtzeitige Präventionsmaßnahmen helfen, psychosozialen Stress als einen der Auslöser für Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) zu vermeiden.

Verbesserung der Arbeitsbedingungen

Für Lanner sollte der Fokus im Sinn einer Verhältnisorientierung auf der Verbesserung der Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz liegen, ergänzt durch verhaltensorientierte Maßnahmen: „Schlechte Arbeitsbedingungen führen zu einer Kombination mehrerer Faktoren, die sich negativ auf das Muskel-Skelett-System auswirken, etwa Zwangshaltung am Fließband oder am Computer bei gleichzeitigem Zeitdruck bzw. zu wenigen Pausen.“

Im Merkblatt „Arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen“ wird zwischen drei Gruppen von Faktoren unterschieden, die zur Entstehung arbeitsbedingter MSE beitragen. Bei den physischen Faktoren handelt es sich um körperlich belastende Arbeitsbedingungen und -anforderungen, bei den organisatorischen und psychosozialen Faktoren um Belastungen, die sich aus der Art der Arbeitsorganisation bzw. den Anforderungen an die Psyche ergeben oder die in Verbindung mit sozialen Bedürfnissen stehen. Die individuellen und soziostrukturellen Faktoren umfassen Vorerkrankungen, Lebensstil, physische Leistungsfähigkeit und den Zugang zur Gesundheitsversorgung.

Während physische Faktoren direkt auf den Bewegungs- und Stützapparat einwirken, ist der Einfluss organisatorischer und psychosozialer Faktoren indirekt. In epidemiologischen Studien wurde bisher vor allem ein Zusammenhang mit MSE im Schulterbereich festgestellt. Diese Erkrankungen treten hauptsächlich bei hohen Arbeitsanforderungen, geringer Kontrolle über die Arbeit, wenig sozialer Unterstützung und hoher Arbeitsbelastung auf.

Organisatorische und psychosoziale Faktoren

Zu den organisatorischen Faktoren, die Stress auslösen, zählen ein hohes Arbeitspensum, eine ungünstige Arbeitszeitgestaltung mit zu langen Arbeitszeiten, keinen oder zu wenigen Pausen, Zeitdruck und die fehlende Möglichkeit, die Arbeitshaltung zu verändern. Auch für die ausgeübte Tätigkeit unzureichende Informationen und ein geringer Handlungsspielraum, der z. B. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht berücksichtigt, können sich negativ auswirken. Inhaltliche Überforderung aufgrund fehlender Qualifikation stresst genauso wie geistige Unterforderung durch monotone Arbeit.

Weitere belastende organisatorische Faktoren sind laut Lanner unklare bzw. widersprüchliche Aufträge. Die Unmöglichkeit, unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden, illustriert sie anhand von Beispielen. So ist etwa ein:e Servicemitarbeiter:in bemüht, für Kunden möglichst schnell Ersatzteile zu beschaffen, muss sich aber an den langwierigen innerbetrieblichen Bestellprozess halten. Oft spielt zusätzlich Zeitdruck eine Rolle – etwa, wenn sich eine Pflegefachkraft um ihre Patienten:Patientinnen kümmert und nebenbei alle pflegerischen Tätigkeiten dokumentieren soll.

Psychosoziale Faktoren, die Stress verursachen, sind oft auf destruktive oder fehlende Kommunikation zurückzuführen, z. B. mangelnde Rückmeldungen von Vorgesetzten. Auch fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte oder Kollegen:Kolleginnen sowie ungelöste Konflikte am Arbeitsplatz belasten psychisch. „Arbeitnehmer:innen sind dann zufrieden, wenn sie als Person wertgeschätzt werden, für ihre Tätigkeit Anerkennung erfahren, eine Möglichkeit bekommen sich weiterzuentwickeln und ihre Arbeit als sinnstiftend einordnen“, beschreibt Lanner das Ergebnis förderlicher Arbeitsbedingungen.

Tipps für Arbeitgeber:innen

Wie sich diese Arbeitsbedingungen realisieren lassen, fasst die Arbeits- und Organisationspsychologin folgendermaßen zusammen: „Der:die Arbeitgeber:in sollte dafür sorgen, dass jede Information zu dem Zeitpunkt zu den Mitarbeitern:Mit-arbeiterinnen kommt, zu dem sie diese brauchen, damit sie ihre Tätigkeit ausführen können. Wichtig ist, darauf zu achten, dass sich die Beschäftigten ihre Tätigkeit so einteilen können, wie es für sie passt, wenn möglich die Pausengestaltung selbst bestimmen und flexible Arbeitszeiten sowie Homeoffice in Anspruch nehmen können.“

Diese Veränderungen zuzulassen und als Chance zu betrachten, stellt Vorgesetzte vor neue Herausforderungen. Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen mehr Verantwortung für ihre eigene Arbeit zu übertragen gelingt nur, wenn ihnen auch Vertrauen entgegengebracht und nicht ständig kontrolliert wird. Weiters gehört dazu, dass Führungskräfte eine Fehlerkultur entwickeln und sich sozialkommunikative Kompetenz aneignen. Diese hilft, in Gesprächen mit Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen zu erkennen, wie es ihnen geht, in welchen Bereichen sie ihre Stärken einbringen können und ob sie sich weiterqualifizieren wollen.

Im Rahmen ihres Präventionsschwerpunkts 2021/22 „Packen wir’s an“ unterstützt die AUVA Unternehmen, Maßnahmen zur Verhinderung von Schäden des Bewegungs- und Stützapparats zu setzen, mit Informationsmaterial, individueller Beratung und Veranstaltungen. So findet am 5. April 2022 in Salzburg die Veranstaltung „Packen wir’s an! – Prävention arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen bei der Bildschirmarbeit im Büro, daheim und mobil“ statt, bei der die AUVA gemeinsam mit Experten:Expertinnen aus verschiedenen Bereichen und Institutionen lösungsorientierte Ideen und Anregungen präsentiert.

Tipps für Arbeitnehmer:innen

Aktiv werden kann nicht nur der:die Arbeitgeber:in, sondern auch jede:r einzelne Arbeitnehmer:in selbst. Lanner empfiehlt den Beschäftigten, zu hinterfragen, ob ihre Arbeit gut organisiert ist und wie sie Zeitverluste, z. B. aufgrund von Unterbrechungen durch Kollegen:Kolleginnen, reduzieren könnten. Wichtig ist auch, den eigenen Handlungsspielraum auszuschöpfen, etwa durch effiziente Zeiteinteilung, mehrere (Kurz-)Pausen mit Haltungsänderung sowie Bewegungs-, Dehnungs- und Entspannungsübungen.

Die eigene Einstellung beeinflusst ebenfalls, wie leicht man sich gestresst fühlt. Als hilfreich erweist es sich, wenn man perfektionistische Ansprüche zurückstecken und Arbeiten delegieren kann, bei Konflikten ein klärendes Gespräch sucht und sich am Ende des Tages darauf konzentriert, was gut gelaufen ist. Auch wenn es gerade Probleme gibt, sollte man sich daran erinnern, welche Herausforderungen man schon gut gemeistert und welche Ziele man erreicht hat. In einer schwierigen Situation kann man sich fragen, was man selbst einem:einer Freund:in in der gleichen Lage raten würde.Außerhalb des Berufs lässt sich durch Bewegung, gute Ernährung, ausreichend Schlaf, Hobbys und Sozialkontakte ein Ausgleich schaffen.

Stressmanagement

Mag. Katharina Händler, MBA, Trainerin und zertifizierte Stress-Mentorin beim Forum für Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung „MENSCH IN BEWEGUNG“ (MIB), spricht von vier Stressmanagement-Strategien, die sich sowohl für Arbeitgeber:innen als auch für Arbeitnehmer:innen eignen: Die erste Strategie basiert auf Reduktion. Befindet man sich bereits in einer Stresssituation, besteht die Priorität darin, den Stress in der Situation zu minimieren. Um das Stresslevel zu senken, sollte man lösungsorientiert vorgehen. Als Beispiel bringt die Trainerin den Vergleich mit der Herausforderung, eine Kiste mit schweren Wasserflaschen in den fünften Stock zu tragen. Teilt man die Last auf und geht mehrmals mit weniger Flaschen, dauert es zwar länger, aber man ist danach nicht so erschöpft und damit leistungsfähiger. Auch bis zu einem vorgegebenen Zeitpunkt scheinbar nicht bewältigbare Arbeiten können oft aufgeteilt und somit leichter bewältigt werden. Statt Probleme zu wälzen, sollte man sich auf mögliche Lösungswege konzentrieren und sich fragen, was man aktuell tun kann.

Bei Strategie Nummer zwei setzt man auf Prävention und versucht, langfristig eine gesündere Strategie zur Stressbewältigung zu entwickeln. Die Basis dafür ist Selbsterkenntnis: Wie reagiere ich auf gewisse Stressoren und welche Möglichkeiten habe ich, es besser zu machen? Beim Beispiel mit den Wasserflaschen könnte man sich überlegen, ob man tatsächlich so viel Wasser in Flaschen braucht oder lieber auch Leitungswasser trinkt. Übertragen auf den Berufsalltag wäre eine Option, sich zu überlegen, wo wirklich hundert Prozent Leistung erforderlich sind, und sich bewusst zu machen, dass das nicht immer der Fall ist. Gutes Zeitmanagement hilft, erst gar nicht in eine Stresssituation zu geraten.

Arbeitgeber:innen können hier ansetzen, indem sie sich ihrer Fehlerkultur bewusst werden. „Sprechen Führungskräfte über Misserfolge und über die daraus gezogenen Lehren, nehmen sie automatisch auch Druck von den Arbeitnehmern:Arbeitnehmerinnen, immer alles perfekt machen zu müssen. Sogenannte Fuck-up-Veranstaltungen finden mittlerweile in vielen Unternehmen Anhänger:innen“, so Händler.

Die dritte Strategie nutzt die Resistenz von Körper und Geist, um in stressigen Phasen physisch und psychisch stabiler zu sein. Förderlich sind gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und Entspannung. So wie jemand, der über genügend Kraft und Kondition verfügt, die Wasserflaschen-Kiste leichter fünf Stockwerke hinauftragen kann, geht es auch Arbeitnehmern:Arbeitnehmerinnen, die bereits eine gewisse Stressresistenz erworben haben. Die dafür förderlichen Verhältnisse kann der:die Arbeitgeber:in z. B. durch firmeninterne Bewegungs- und Entspannungsangebote schaffen. Schlüssige Informationen helfen den Beschäftigten, selbstverantwortlich zu handeln und die Angebote anzunehmen.

Resilienz, die vierte Strategie, geht über Resistenz hinaus, ihre Stärke beruht auf der flexiblen Reaktion auf psychisch belastende Situationen. Hat man schon verschiedene stressreiche Situationen erfolgreich bewältigt, vertraut man eher darauf, auch eine neue Herausforderung auf die jeweils passende Art meistern zu können. „Resilienz ist die Widerstandskraft in Krisen. Widerstandsfähige Menschen brechen nicht in Krisen, sondern sehen diese als Herausforderung. Durch diese Umbewertung werden andere Hormone stimuliert, daher gehen resiliente Personen mit Stressreizen langfristig gesünder um. Die Kraft der inneren Stärke kann jede:r durch Übung und Neubewertungen kontinuierlich trainieren“, beschreibt Händler. Erschöpfungszustände bis zum Burnout lassen sich damit vermeiden.

Die Trainerin bezeichnet den Erwerb von Resilienz als Lebensaufgabe. Man sollte sich immer wieder die Sinnfrage „Was ist mir im Leben wichtig?“ stellen und den Umgang mit Stresssituationen danach ausrichten. Allerdings müsse man sich nicht nur auf diese besonders herausfordernde Strategie konzentrieren, so Händler: „Es geht bei den vier Ansätzen nicht um ‚entweder – oder‘, sondern um ‚sowohl – als auch‘, um kurz- und langfristig an der Stressbewältigung zu arbeiten.“ 

Zusammenfassung

Stresssituationen erhöhen die Muskelspannung. Hält der Stress länger an und fehlen Erholungsphasen, kann das längerfristig zu Muskel-Skelett-Erkrankungen führen. Im Beruf erhöhen bestimmte organisatorische und psychosoziale Faktoren das Risiko für Stress und damit für Beschwerden des Bewegungs- und Stützapparats. Abhilfe schaffen lässt sich durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie durch Stressmanagement-Strategien. 


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