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Arbeits- und Organisationspsychologie

Ethik im Arbeitnehmer:innenschutz

Im § 3 (1) Arbeitnehmer:innenschutzgesetz heißt es: „Arbeitgeber haben die zum Schutz … der Integrität und Würde erforderlichen Maßnahmen zu treffen …“ [1]. Es geht also nicht nur um Gesundheit, sondern auch um „Arbeit und menschliche Würde“. Was können Arbeitgeber:innen in einer digitalisierten und automatisierten Arbeitswelt zum Schutz der Würde beitragen? Die Antwort darauf ist mehr denn je eine menschengerechte Gestaltung der Schnittstelle Mensch – Technik – Organisation. Aber reichen bestehende arbeitspsychologische Bewertungskonzepte dazu noch aus? Oder braucht es eine Neubewertung und Ergänzung der Kriterien? Die Autorin meint: Ja.

Das Bild symbolisiert die Zusammenarbeit von Mensch und Technik: Ein Finger zeigt auf eine virtuelle Figur, die aus Punkten und Strichen zusammengesetzt ist. Im Hintergrund sind noch einige mehr zu sehen.
Adobe Stock

Gründe, die für eine Neubewertung und Ergänzung der Kriterien sprechen: Erstens, die beim Menschen verbleibende Arbeit muss selbstverständlich weiterhin gültige Kriterien erfüllen, die auch mit geeigneten Methoden durch Expertinnen:Experten überprüft werden müssen. Arbeitswissenschaftliche Normen und Standards liefern Kennwerte für das erträgliche oder zumutbare Maß. 

Zweitens, das Zusammenrücken von Mensch und Technik, die zunehmend engere Interaktion mit der Technik erfordert eine Neubewertung der bestehenden Kriterien unter dem Aspekt der kognitiven Anforderungen: der Auswirkungen auf das Denken, Wissen und Handeln des Menschen. Arbeitserschwernisse durch mangelhafte oder störungsanfällige Systeme gefährden, unterbrechen, stören oder erschweren die Erfüllung des Arbeitsauftrags. 

Und drittens: Derzeit gibt es kein Kriterium „ethisch vertretbar“. 

Eine Frage der Strategien

In der Bearbeitungsreihenfolge des Systementwicklungsprozesses beginnt menschengerechte Arbeits- und Technikgestaltung bei der Arbeitsorganisation bzw. der Prozessbeschreibung. Erst in weiterer Folge werden die Funktionsteilung – Allokation – sowie die Eingriffspunkte von Psychologie und Technik gemeinsam festgelegt. Was für den Menschen hilfreich ist, was ihm abgenommen werden sollte und was beim Menschen verbleiben sollte, wird aktuell selten mit der Psychologie diskutiert. Das hat etwas mit der Automatisierungsstrategie zu tun, die angewendet wird. Derzeit dominieren technozentrierte oder ökonomische Strategien. 

Auch in der Prävention spielen ökonomische Strategien eine Rolle: „Prävention rechnet sich!“ Durch die „Hintertüre“ der Kosten-Nutzen-Analyse gewinnt der Utilitarismus wieder an Bedeutung für die moderne Ökonomie. Die Psychologie als Wissenschaft steht entschieden für die Gegenposition, für eine Vertragsethik, wie sie beispielsweise von John Rawls konzipiert wurde, „… die wohl tatsächlich dem Utilitarismus weitaus überlegen ist.“ [2]

Der Punkt ist: Nur komplementäre Funktionsteilungsstrategien, die „Im Mittelpunkt der Mensch“-Strategien (humanized task approach allocation), gewährleisten, dass das technische System ein Werkzeug des Menschen bleibt und nicht umgekehrt der Mensch zum Werkzeug des technischen Systems wird. Entscheidungskriterium für die Aufgabenverteilung auf Mensch und technisches System ist die Nutzung und Förderung menschlicher Fähigkeiten mit dem Ziel: Menschliche Schwächen sollen ausgeglichen werden, Stärken verstärkt. Es geht in der Psychologie also nicht darum, Computerisierung, Digitalisierung und Automatisierung zu verhindern, sondern um eine für den Menschen erstrebenswerte Form des Ersetzens. 

Schlussfolgerung: Ethikkriterien zu entwickeln bedeutet, eine „Im Mittelpunkt der Mensch“-Strategie auf Arbeits- und Technikgestaltung anzuwenden. 

Derzeit gibt es kein Kriterium ›ethisch vertretbar‹

Sylvia Rothmeier-Kubinecz

Kriterium „technisch möglich, aber ethisch verboten“ 

Für die Gestaltung einer menschengerechten und wertorientierten Gestaltung der Schnittstelle Mensch – Technik – Organisation braucht es ein weiteres Entscheidungskriterium, nämlich: was ethisch vertretbar ist: „technisch möglich, aber ethisch verboten“.  

Die Ethik ist mit drei wesentlichen Fragen befasst: 

  1. nach dem höchsten Gut, 
  2. nach dem richtigen Handeln in bestimmten Situationen 
  3. und der Freiheit des Willens. 

Anhand eines Beispiels zur Allokation psychosozialer Arbeit mit einem Pflegeroboter soll das verdeutlicht werden. Ein Forschungsprojekt der FH Dornbirn hat sich mit der Frage befasst: 

  • Welche Aufgaben menschlicher Arbeit können Pflegeassistenzroboter übernehmen? 

Es ging um einen Abgleich von technischen Optionen und Bedarf [3]. Dafür stand ein kollaborativer Roboter „Lio“ von „F&P Robotics“ zur Verfügung, den die Studenten:Studentinnen programmieren konnten. Ein Team aus Pflegekräften und Technikern:Technikerinnen definierte 40 Aufgaben, die der Pflegeroboter auszuführen hat. 

Leitfragen waren: 

  • Welche Aufgaben könnte ein Pflegeassistenzroboter Ihrer Meinung nach im Pflegealltag durchführen? 
  • Welche Aufgaben hätten Ihrer Meinung nach die höchste Priorität?

Hier die 10 wichtigsten Aufgaben, die der Roboter nach Meinung des Teams aus Pflegekräften und Technikern:Technikerinnen im Pflegealltag übernehmen sollte:

  1. Erkennung von Bewohnern:Bewohnerinnen
  2. Kommunikative Reaktion auf Ansprache durch Personen
  3. Aktivierung von Bewohnern:Bewohnerinnen durch persönliche Ansprache
  4. Motivation zu gezielter Fortbewegung auf einem Stockwerk 
  5. Getränke anbieten für (einzelne) Bewohner:innen 
  6. situationsbezogene Überwachung von einzelnen Personen am Tag
  7. situationsbezogene Überwachung von einzelnen Personen in der Nacht
  8. Personalruf in bestimmten Situationen/Schwesternruf-Anbindung
  9. selbständige Eintragung in Patienten:Patientinnen- bzw. Pflegedokumentation 
  10. Getränkeaufnahme kontrollieren und ggf. dokumentieren 

Für die Arbeit mit oder an Lebewesen gelten spezielle ethische Regeln und Konventionen. Es zeigt sich, dass man dem Roboter sehr weitgehende und intime Überwachungs- und Kommunikationsaufgaben übergeben möchte, darunter so heikle Aufgaben wie das Überprüfen der Vitalzeichen in der Nacht. Auch die Frage, wer die „einzelnen“ Personen sein sollen, ist an sich schon problematisch. Was jetzt zu tun wäre, ist die drei zentralen Fragen zu Ethik darauf anzuwenden.

Im Gegensatz dazu befasst sich der psychologische Ansatz mit den Fragen: 

  • Welche Aufgaben menschlicher Arbeit dürfen Pflegeassistenzroboter übernehmen? 
  • Welche Aufgaben müssen beim Menschen verbleiben? 

Ausgehend vom Gesamtauftrag werden in sich geschlossene Teilaufgaben identifiziert. Hier ein Auszug von 5 der 7 gängigsten Teilaufgaben in der Pflege [4]:

  1. Körperpflege
  2. Nahrungsversorgung 
  3. Bewegung und Fortbewegung 
  4. Beobachten und Verarbeitung von Informationen 
  5. Medizinische Behandlung 

Diese Teilaufgaben werden gemäß der psychologischen Forderung nach vollständigen (ganzheitlichen) Tätigkeiten in die zur Aufgabe gehörigen Tätigkeiten und gleichzeitig nach den Tätigkeitsklassen Vor- und Nachbereiten, Ausführen, Kontrollieren und Organisieren weiter aufgeschlüsselt. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich grundsätzlich von technikzentrierten Strategien und deren Anwendung, z. B. in Form von Use Cases. Die nach arbeitspsychologischen Kriterien aufbereiteten Teiltätigkeiten bieten eine gute Ausgangslage für die Psychologie, mit der Technik gemeinsam die Allokation zu entwerfen. Dazu gehört es, Handlungen und Operationen zu identifizieren, Eingriffspunkte festzulegen usw.

Abbildung 1 zeigt ein Beispiel zur Teilaufgabe 1 Körperpflege.

Tabelle Aufgabe Körperpflege nach Tätigkeitsklassen
Abbildung 1: Die Aufgabe Körperpflege nach Tätigkeitsklassen Adobe Stock

Es fehlt „Ingenieurpsychologie“

An diesem Punkt angelangt, lässt sich erkennen, dass genau hier spezielle ethische Regeln und Konventionen und eine Spezialisierung „Ingenieurpsychologie“ fehlen!

Hätten Sie gerne, dass sich ein Roboter um Sie kümmert? Installationen, Kunstprojekte oder auch Projekte in der Praxis weisen schon lange auf das Fehlen spezifisch ethischer Regeln und Konventionen hin:

  • Installation von Dan Chen (2012) [5]: Die “End of Life Care Machine“, die sterbenden Menschen zur Seite steht, den Arm streichelt und ihnen versichert, dass ihre Familie nicht bei ihr sein kann, sie aber liebt und auch nach ihrem Tod an sie denken wird. 
  • hitchBOT von David Harris Smith and Frauke Zeller (2013) [6]: ein kanadischer trampender Roboter.
  • Film von Sander Burger (2015) [7]: IK BEN ALICE, Alica cares. In einem niederländischen Pilotprojekt sollte Alica, eine emotional intelligente Puppe, die Einsamkeit älterer Menschen mildern.

Warum sind wir dennoch so technikgläubig und machen uns so wenig Gedanken über die Auswirkungen auf den Menschen? Wir vergessen auf das Psychische an der Tätigkeit!

Wir führen Tätigkeiten mit ihren zugehörigen Handlungen nicht nur aus, sondern jede Tätigkeit erfüllt auch einen Zweck/ein Motiv. Jede Tätigkeit wird durch Stimmungen und Emotionen begleitet, ist von Erfahrungen getragen und von Vorstellungen geleitet. Jede ausführende Handlung ist zudem durch die Sinneswahrnehmung kontrolliert. Und das hat Folgen:

  • Es ist psychisch belastend, etwas gegen die eigene Überzeugung zu tun.
  • Illegitime Arbeitsaufträge sind ein Angriff auf unser Selbst
  • Verunsicherung durch KI verändert die mentale Hintergrundkontrolle.
  • Autonomie und Stolz wird zu chronischer Enttäuschung, wenn Gesellschaftsordnung oder Technologien nicht mehr durchschaubar, beeinflussbar und vorhersehbar sind.

Die Notwendigkeit der Humanisierung der Arbeit unter Berücksichtigung von menschlicher Würde wird immerhin erkannt:

Man kann dabei sogar teilweise auf bestehende Strukturen zurückgreifen und sie anpassen. Zum Beispiel: Verpflichtende Ethikkommissionen sind im Bereich der Krankenanstalten durch die bundesgesetzliche Regelung in Österreich vorgeschrieben. Man muss es nur tun – jetzt!

LITERATUR:

  • [1] ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (kommentiert), M 030 (auva.at)
  • [2] Strotzka, H. (1983). Fairness, Verantwortung, Fantasie. Eine psychoanalytische Alltagsethik. Wien: Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H, 61.
  • [3] Kempter Guido, PaldánN Kathrin, Arnold Lukas (2020). Welche Aufgaben menschlicher Arbeit können Pflegeassistenzroboter übernehmen? UCT Research, Fachhochschule Vorarlberg. Hochschulstraße 1, A-6850 Dornbirn: GfA Herbstkonferenz 2020, Wien. „Stellenwert menschlicher Arbeit im Zeitalter der digitalen Transformation“. Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e.V., Dortmund (Hrsg.)
  • [4] Rau, R., Hoppe, J. (2015). TBS-GA-L. zur Verfügung gestellt im Rahmen der AUVA-Weiterbildung am 7.9.2015 in Wien.
  • [5] Dan Chen (2012). End of Life Care Machine. Installation: Ausstellung „Hello, Robot. Design zwischen Mensch und Maschine“ im MAK 2017 in Wien.
  • [6] David Harris Smith and Frauke Zeller (2013). hitchBOT.
  • [7] Sander Burger (2015). IK BEN ALICE – Alica cares. Film. 

Zusammenfassung

Die Arbeitswelt ist zunehmend durch Digitalisierung und Automation geprägt. Die Autorin argumentiert, warum es dadurch zu einer Neubewertung arbeitspsychologischer Bewertungskonzepte kommen muss. 


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