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Chancen und Grenzen von Assistenzsystemen

Ansicht aus der Vogelperspektive auf eine Straße mit Autos, die von illustrierten Kreisen, die eine Art Steuerung darstellen, umgeben sind
© Adobe Stock

Schon heute sind viele Fahrzeuge mit Fahrer:innenassistenzsystemen ausgestattet, die den Komfort, vor allem aber die Verkehrssicherheit erhöhen. Eine Reihe von sicherheitsrelevanten Assistenzsystemen ist seit Juli 2022 für neu typisierte Kraftfahrzeuge in der EU verpflichtend, ab Juli 2024 gilt die Pflicht für alle neu zugelassenen Kraftfahrzeuge. Diese Regelung per EU-Verordnung soll für eine deutliche Verringerung der Anzahl und Schwere von Verkehrsunfällen sorgen.

„Fahrer:innenassistenzsysteme retten Leben und Sachwerte. Der:die Lenker:in hat es leicht, weil beim Kauf eines neuen Fahrzeugs sichergestellt ist, dass alle wichtigen Systeme bereits vorhanden sind“, betont Dr. Armin Kaltenegger, Leiter des Bereichs Eigentumsschutz, Recht & Normen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV) den Vorteil der rechtlich verbindlichen Regelung. Bei den vorgeschriebenen Assistenzsystemen handelt es sich um im Hintergrund laufende passive Systeme, die keine dauernde Beobachtung erfordern und den:die Fahrer:in nicht ablenken. Letztverantwortlich ist allerdings immer der:die Lenker:in.

Vorteile

„Fahrzeuglenker:innen können von Fahrer:innenassistenzsystemen sehr profitieren, wenn diese richtig eingesetzt und nicht wegen mangelnden Verständnisses aufgrund fehlender oder unzureichender Unterweisung deaktiviert werden“, weist DI Martin Winkelbauer vom KFV Wien auf die Vorteile von Assistenzsystemen hin. Mit den auf Sensortechnologie basierenden Systemen gelingt es, Risiken, die etwa auf Müdigkeit, Ablenkung oder Fehleinschätzung beruhen, zu minimieren.

Eine wesentliche Unfallursache ist eine nicht an die Verkehrssituation und das eigene Fahrkönnen angepasste Geschwindigkeit. Durch den intelligenten Geschwindigkeitsassistenten lassen sich die Hälfte der Verkehrsunfälle und 21 Prozent der bei Unfällen Getöteten vermeiden, so Winkelbauer. Er zitiert den schwedischen Verkehrssicherheitsforscher Dr. Göran Nilsson: „Die Anzahl der Unfälle mit Personenschaden verändert sich mit dem Quadrat der gefahrenen Geschwindigkeit, die Anzahl der schweren Verletzungen steigt mit der 3. Potenz der Geschwindigkeit, die der Getöteten mit der 4. Potenz.“ Winkelbauer veranschaulicht diese mathematische Formel zum exponentiellen Anstieg der Unfallzahlen mit der Geschwindigkeit durch folgendes Beispiel: „Am Wiener Gürtel 60 statt 50 km/h zu fahren, bedeutet 20 % mehr Geschwindigkeit, das heißt, 44 % mehr Unfälle mit Personenschaden (1,2²=1,44) und mehr als doppelt so viele Getötete (1,24⁴= 2,0736).“ 

Fahrer:innenassistenzsysteme retten Leben und Sachwerte.

Armin Kaltenegger

Die Unfallforschung der Versicherer ermittelt das Nutzenpotenzial der Fahrer:innenassistenzsysteme anhand von Unfalldaten. „Die Basis unserer Untersuchungen sind Schadensdaten aus unseren Versicherungsakten. Wir haben über 12.000 Unfälle in unserer Datenbank“, so Dr.-Ing. Matthias Kühn, Leiter des Bereichs Fahrzeugsicherheit in der Unfallforschung der Versicherer (UDV) des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV). Ein mehrjähriges Forschungsprojekt, in dem Unfälle von Pkw, Lkw und Bussen untersucht wurden, zeigte, dass alle Assistenzsysteme das Unfall- und Schadensgeschehen positiv beeinflussen können.

Porträt Dr. Armin Kaltenegger
Dr. Armin Kaltenegger Leiter des Bereichs Eigentumsschutz, Recht & Normen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV) ©KFVAPA-Fotoservice Schedl
Porträt DI Martin Winkelbauer
DI Martin Winkelbauer Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) Wien © privat

Für Pkw lag das Sicherheitspotenzial, bezogen auf alle Unfälle mit Pkw-Beteiligung, zwischen zwei Prozent für den Totwinkelwarner und knapp 45 Prozent für den Notbremsassistenten mit Fußgänger:innen- und Radfahrer:innenerkennung. Auch bei Lkw und Bussen ergab sich der höchste Nutzen mit 12 bzw. 15 Prozent für den Notbremsassistenten.

Um die Vorteile der Fahrer:innenassistenzsysteme optimal nutzen zu können, ist es erforderlich, sich bereits vor der Abfahrt damit auseinanderzusetzen. Während der Fahrt ist das nicht möglich und kann durch Ablenkung vom Verkehrsgeschehen zu Unfällen führen. „Ein Auto kennenzulernen heißt heute nicht, die Fahrdynamik kennenzulernen, sondern die Assistenzsysteme. Speziell bei Pool- oder Leihfahrzeugen ist das wichtig. Nicht bei jedem Fahrzeug setzt sich das System nach Ende der Fahrt auf die Standardeinstellungen zurück“, erklärt Winkelbauer. Der:die Vornutzer:in könnte ein System anders eingestellt oder deaktiviert haben.

Grenzen

Auch Fahrer:innenassistenzsysteme stoßen in gewissen Situationen an ihre Grenzen. Diese zu kennen, ist für die Verkehrssicherheit essenziell. „Man muss den Menschen erklären, was die Systeme leisten können und was nicht. Wenn sich der:die Fahrer:in zu sehr darauf verlässt, werden neue Unfälle entstehen“, warnt Kühn. Bereits in der Fahrschule sollte man über die Möglichkeiten und Grenzen von Assistenzsystemen informiert werden. Soweit bekannt ist, führen Fehlfunktionen von Assistenzsystemen allerdings extrem selten zu Unfällen – in der Unfalldatenbank der UDV findet sich bisher kein einziger Fall.

Einen negativen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit von Assistenzsystemen haben Witterungsbedingungen wie dichter Nebel, starker Regen oder Schneefall sowie die Verschmutzung von Sensoren. Optische Systeme, die sich an Bodenmarkierungen orientieren, können durch schlecht erkennbare Linien und vorübergehende orange Markierungen in Baustellenbereichen überfordert sein. Eine Beeinträchtigung ist auch in schwierigen Verkehrssituationen möglich, etwa an unübersichtlichen Kreuzungen, auf schmalen, kurvenreichen Strecken oder in Zusammenhang mit Radfahrern:Radfahrerinnen und E-Scooter-Fahrern:-Fahrerinnen. Da die Fahrer:innenassistenzsysteme laufend weiterentwickelt werden, kann man davon ausgehen, dass sich deren Funktionsfähigkeit weiter verbessern wird.

Ein Auto kennenzulernen heißt heute nicht, die Fahrdynamik kennenzulernen, sondern die Assistenzsysteme.

Martin Winkelbauer

Schadenersatz

Selbst wenn Fehlfunktionen von Fahrer:innenassistenzsystemen kaum Unfälle auslösen, ganz ausschließen lassen sie sich nicht. Sollte es durch ein Fahrzeug, das mit Assistenzsystemen ausgestattet ist, zu Personen- oder Sachschaden kommen, greift das Schadenersatzrecht. Laut diesem trägt jeder:jede seinen:ihren Schaden selbst, außer es liegen sogenannte Zurechnungsgründe vor – so haftet etwa bei einem fehlerhaften Produkt der Hersteller.

Portrait Dr.-Ing. Matthias Kühn
Dr.-Ing. Matthias Kühn Leiter des Bereichs Fahrzeugsicherheit in der Unfallforschung der Versicherer (UDV) des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (GDV) © GDV

Wenn sich der:die Fahrer:in zu sehr auf Assistenzsysteme verlässt, werden neue Unfälle entstehen.

Matthias Kühn

„Früher waren die Kausalzusammenhänge leichter zu erkennen, z. B., wenn ein Teil eines Fahrzeugs gebrochen ist. Obwohl die Beweisführung schwieriger geworden ist, gelten die schadenersatzrechtlichen Prinzipien nach wie vor. Den Verantwortlichen in der EU war klar, dass die Dinge komplexer werden, daher wurde der Unfalldatenspeicher eingeführt“, erläutert Kaltenegger. Versicherungslücken können keine entstehen: Die Kfz-Haftpflichtversicherung deckt den Schaden in jedem Fall ab, daneben können aber je nach Ursache der Fehlleistung z. B. auch Fahrzeughersteller:innen, Teilelieferanten:-lieferantinnen oder Softwareproduzenten:-produzentinnen haftbar gemacht werden.

Schulung und Unterweisung

Der Glaube, ohne die Unterstützung durch Fahrer:innenassistenzsysteme besser und sicherer zu fahren, ist für manche Lenker:innen der Grund, diese Systeme abzulehnen. Häufig steht allerdings die Scheu vor der Technik dahinter, wenn z. B. Systeme in Firmenfahrzeugen deaktiviert werden. „Wir haben Personen mit unterschiedlicher Erfahrung Pkw mit Assistenzsystemen fahren lassen und dabei festgestellt, dass eine Einschulung nötig ist. Fehlt diese, werden die Systeme meist nicht genutzt bzw. abgeschaltet. Vor allem ältere Menschen haben Probleme im Umgang mit Assistenzsystemen und interessieren sich weniger dafür“, stellt Kaltenegger fest. Er sieht den:die Arbeitgeber:in in der Pflicht, die Mitarbeiter:innen in neue Assistenzsysteme einzuschulen und regelmäßige Unterweisungen durchzuführen. Unterstützend können Erklärvideos und Online-Schulungen angeboten werden. Bei älteren, weniger technikaffinen Personen empfiehlt Kaltenegger Peer-Learning, bei dem Kollegen:Kolleginnen im gleichen Alter nicht nur die Funktionsweise der Assistenzsysteme erklären, sondern auch zu deren Verwendung motivieren.

Die AUVA unterstützt Unternehmen im Rahmen ihres Präventionsschwerpunkts 2022 bis 2024 „Komm gut an!“ mit Beratungen, Veranstaltungen und Seminaren bzw. Webinaren zum Thema Verkehrssicherheit, unter anderem zum richtigen Umgang mit Fahrer:innenassistenzsystemen. Die Funktion von Assistenzsystemen wird auf der vom KFV in Kooperation mit der AUVA erstellten Website smartrider.at niederschwellig erklärt.

Verpflichtende Assistenzsysteme

Die folgenden Fahrer:innenassistenzsysteme sind seit 2022 bzw. ab 2024 vorgeschrieben:

  • Der automatische Notbremsassistent erkennt eine Gefahrensituation selbständig und kann eine Notbremsung veranlassen, um einen Unfall zu verhindern oder zumindest abzumildern. Welche Objekte, Hindernisse und Verkehrsteilnehmer:innen das System erkennen muss, ist gestaffelt geregelt. In der ersten Phase ab 2022 bzw. 2024 muss der Notbremsassistent Hindernisse und bewegte Fahrzeuge vor dem Auto erkennen, in einer zweiten Phase auch Fußgänger:innen und Radfahrer:innen.
  • Der intelligente Geschwindigkeitsassistent unterstützt bei der Wahl der angemessenen bzw. zulässigen Geschwindigkeit. Das System macht den:die Fahrer:in darauf aufmerksam, wenn die für den jeweiligen Straßenabschnitt geltende Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten wird, z. B. durch eine Anzeige auf dem Display des Fahrzeugs oder ein Pulsieren des Gaspedals.
  • Der Notfall-Spurhalteassistent unterstützt beim Halten einer sicheren Fahrzeugposition in Bezug auf die Fahrstreifen- oder Straßenbegrenzung. Wenn das Fahrzeug seinen Fahrstreifen verlässt oder kurz davor ist, ihn zu verlassen, und ein Zusammenstoß drohen könnte, warnt das System durch Töne oder Blinken. Es greift auch aktiv in die Lenkung ein, falls der:die Lenker:in auf die Warnung nicht reagiert.
  • Das Warnsystem bei Müdigkeit und nachlassender Aufmerksamkeit registriert Anzeichen für Müdigkeit bzw. mangelnde Konzentration des:der Fahrers:Fahrerin. Damit soll insbesondere Unfällen durch Sekundenschlaf, einer weit verbreiteten Todesursache auf der Autobahn, vorgebeugt werden.
  • Der Rückfahrassistent warnt den:die Fahrer:in, wenn sich Personen, Fahrzeuge oder andere Objekte hinter dem im Rückwärtsgang fahrenden Fahrzeug befinden.
  • Das Notbremslicht leuchtet auf, wenn ein Fahrzeug mit einer für die jeweiligen Straßenverhältnisse starken Verzögerung abgebremst wird. Es erleichtert damit anderen Verkehrsteilnehmern:-teilnehmerinnen, rechtzeitig auf die Notbremsung zu reagieren.
  • Die Reifendrucküberwachung zeigt einen zu niedrigen Reifendruck an. Ein nicht optimaler Reifendruck beeinflusst das Fahrverhalten negativ und erhöht das Unfallrisiko, z. B. durch geringere Wendigkeit oder einen Reifenplatzer; auch der Kraftstoffverbrauch steigt.
  • Die ereignisbezogene Datenaufzeichnung zeichnet kritische Informationen kurz vor, während und unmittelbar nach einem Aufprall auf und speichert diese. Dazu zählen z. B. Fahrzeuggeschwindigkeit, Abbremsen, Position und Neigung des Fahrzeugs auf der Straße sowie Zustand und Grad der Aktivierung der Sicherheitssysteme. Dieses System kann nicht deaktiviert werden. Die Daten dürfen den Behörden ausschließlich zur Unfallforschung und ‐analyse zur Verfügung gestellt werden.
  • Die Vorrichtung zum Einbau einer alkoholempfindlichen Wegfahrsperre ist eine Schnittstelle, über die der „Alko-Lock“ mit dem Fahrzeug verbunden werden kann. Dieser erkennt eine Alkoholisierung des:der Fahrers:Fahrerin. Nur die Schnittstelle, nicht aber die alkoholempfindliche Wegfahrsperre muss ab 2022 bzw. 2024 eingebaut sein.
  • Für Nutzfahrzeuge wie Lkw oder Busse sind zusätzliche Assistenzsysteme vorgeschrieben. Der Abbiegeassistent warnt den:die rechtsabbiegenden:-abbiegende Lenker:in, wenn ein:e Fahrradfahrer:in parallel zum Fahrzeug fährt. Das Anfahrinformationssystem warnt vor querenden Fußgängern:Fußgängerinnen und Radfahrern:Radfahrerinnen. Diese zwei Systeme bieten ein hohes Potenzial zur Vermeidung von Unfällen mit Lkw.
  • Weitere Assistenzsysteme:
    Informationen zu verpflichtenden und (noch) nicht vorgeschriebenen Assistenzsystemen bieten die Webinare von AUVA und KFV zum Thema automatisiertes Fahren und Fahrer:innenassistenzsysteme für Pkw bzw. Lkw. Zu diesen Systemen zählt z. B. der Abstandsregeltempomat, der einen definierten Mindestabstand zum Vorderfahrzeug hält. Für diesen besteht – ebenso wie für den Autobahnassistenten und den Stauassistenten – derzeit keine rechtliche Pflicht zum Einbau in Neufahrzeuge.

Zusammenfassung

In der EU sind seit Juli 2022 mehrere Fahrer:innenassistenzsysteme für neu typisierte Kraftfahrzeuge vorgeschrieben. Ab Juli 2024 gilt diese Pflicht für alle neu zugelassenen Kraftfahrzeuge. Mit dieser Regelung soll die Anzahl und Schwere von Verkehrsunfällen deutlich reduziert werden. Der:die Arbeitgeber:in sollte die Mitarbeiter:innen in die Verwendung der Assistenzsysteme einschulen und regelmäßige Unterweisungen durchführen. Die AUVA bietet zu Fahrer:innenassistenzsystemen in Pkw und Lkw spezielle Webinare an. 


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