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Unfallanalysen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen

Arbeiter auf einer Baustelle
Fotolia/ACP prod

Statistiken zeigen, dass pro Jahr fast 5.500 Menschen in der Europäischen Union bei der Arbeit ums Leben kommen und eine weit größere Zahl Verletzungen davonträgt. Neben dem damit verbundenen menschlichen Leid verursachen Arbeitsunfälle allein direkte Versicherungskosten in Höhe von schätzungsweise 20 Mrd. Euro, hinzu kommen 149 Mio. verloren gegangene Arbeitstage. Alle zahlen den Preis dafür: jeder Einzelne, die Unternehmen und die Gesellschaft. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, den Unfallrisiken die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. (Quelle: Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, 2002)

  • „Ein Arbeitnehmer ist im Zuge von Bauarbeiten zur Herstellung einer Parkplatzfläche von einem rückwärtsfahrenden Radlader überfahren worden. Aufgrund der Schwere der Verletzungen im Brustbereich ist der Arbeitnehmer noch auf der Baustelle verstorben.“
  • „Ein Arbeitnehmer stürzt ca. 3 m von einer Deckenschalung und zieht sich schwere Verletzungen zu.“
  • „Der Arbeitnehmer wurde bei Reparaturarbeiten an der nicht abgeschalteten Ziegelsetzmaschine zwischen Förderband und Setzgreifer eingeklemmt.“
  • „Der Verunfallte war mit Kranarbeiten beschäftigt, dabei hob er ein ca. 18 t schweres Werkstück. Dieses dürfte zu pendeln begonnen haben und hat den Verunfallten gegen ein weiteres Werkstück gedrückt.“

Wenn man die einzelnen Unfallbeispiele betrachtet, fällt einem gleich der oft triviale Hergang auf. Es ist immer wieder erschütternd, wie wenig es eigentlich an betrieblichen Maßnahmen bedurft hätte, den Unfall zu verhindern.

Die Erhebung von Arbeitsunfällen ist eine der Kernkompetenzen und wichtigsten Aufgaben der Arbeitsinspektion. Schlussfolgerungen aus dem Unfallgeschehen waren und sind oft der Auslöser für Weiterentwicklungen im technischen ArbeitnehmerInnenschutz. Hier wird nun auf die Bedeutung des „human factor“ eingegangen, wobei aber nicht „Schuldsuche“ betrieben werden soll, gleich ob aufseiten der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Vielmehr wird der Versuch unternommen, auf die „Verhältnisse“ hinzuweisen, die zu einem Unfall geführt oder diesen zumindest begünstigt haben.

Arbeitsunfälle mit dem Verdacht auf schwere Körperverletzung, Arbeitsunfälle, bei denen eine Meldung der ArbeitgeberInnen gemäß § 98 Abs. 1 ASchG erfolgt ist, und Arbeitsunfälle in einem Betrieb, die – obzwar sie leicht waren – aufgrund einer zeitlichen und örtlichen Häufung einen systemischen Mangel in der Arbeitnehmerschutzorganisation vermuten lassen, werden von den Arbeitsinspektoraten näher erhoben. Neben allgemeinen Daten zu den verunfallten Arbeitskräften, zum Betrieb und zu den Maßnahmen der Arbeitsinspektorate werden im Zuge der Erhebungen die Unfallart, das Verhalten der Arbeitnehmerin bzw. des Arbeitnehmers und unfallbegleitende Umstände näher betrachtet.

Verhalten und unfallbegleitende Umstände

In 45 Prozent der erhobenen Arbeitsunfälle (2014 bis 2016) stellten die Arbeitsinspektorinnen und -inspektoren fest, dass ein den Unfall begünstigendes oder zumindest beeinflussendes Verhalten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der folgenden Kategorien vorgelegen hat:

  • nicht erforderlicher Aufenthalt im Gefahrenbereich
  • Benutzung unzulässiger Verkehrswege
  • unterlassene oder falsche Benutzung der persönlichen Schutzausrüstung
  • nicht erteilter Auftrag
  • unterlassener Gebrauch von Arbeitsmitteln
  • unsachgemäßer Gebrauch von Arbeitsmitteln inkl. Manipulation von Schutzeinrichtungen
  • unbefugter Gebrauch von Arbeitsmitteln

Bei den unfallbegleitenden Umständen stellten die Arbeitsinspektorinnen und Arbeitsinspektoren oftmals unzureichende Arbeitsvorbereitung, Zeitdruck, hohes Arbeitstempo sowie ungenügende Einarbeitung und geringe Erfahrung fest.

Die Ursachen von Arbeitsunfällen sind, wie schon eingangs erwähnt, oftmals erschreckend banal. Nur in den seltensten Fällen liegen komplexe technische Sachverhalte vor, deren Gefahr naturgemäß nur schwer vorher zu erkennen war. Es handelt sich vielmehr in nahezu allen Fällen um bekannte Gefahren und Situationen. Doch obwohl die Gefahren bekannt sein sollten, passieren Unfälle. Man erkennt, dass man also etwas tiefer schauen muss, den Blick von den Unfallursachen im engeren Sinn („fehlende Absturzsicherung“, „Maschine nicht abgestellt“) auch auf andere Faktoren richten muss:

  • Was ist mit organisatorischen Mängeln?
    • Arbeitsvorbereitung, Planung
    • Aufsicht, Kontrolle
  • Kann eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer tatsächlich „alleine schuld“ sein? Oftmals tauchen in Unfallberichten der Betriebe Bemerkungen auf (und werden auch von den Arbeitsinspektoraten so aufgezeichnet) wie:
    • „Hat nicht aufgepasst, war unkonzentriert“
    • „War unnotwendigerweise im Gefahrenbereich“
    • „Arbeitete entgegen den Anweisungen“

Es stellt sich also die Frage nach dem „Warum?“

Greift die alleinige Suche nach der übertretenen Bestimmung im Zuge der Unfallerhebung (nicht notwendigerweise nur unfallkausal) nicht zu kurz, weil vermutet werden kann, dass organisatorische Mängel eine große Rolle spielen? Organisatorische Mängel „entstehen“ nicht erst auf der Arbeits- oder Baustelle oder am Arbeitsplatz in der Arbeitsstätte. Vielmehr sind Fehler oder Unvollständigkeiten bei Arbeitsvorbereitung und Arbeitsplanung neben der Organisation von Aufsicht und Kontrolle sehr oft Ausgangspunkt von gefahrbringenden Zuständen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Teil des Systems, allerdings jener Teil, der trotz Mängeln die Arbeitsaufgaben erfüllen soll oder – aus Pflichtbewusstsein – erfüllen will. Dabei bleiben mitunter leider die Arbeitssicherheit und der Gesundheitsschutz als Erstes auf der Strecke.

Wenn das Verhalten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unfallbegünstigend war bzw. gar vom Arbeitsinspektorat festgestellt wurde, dass persönliches Fehlverhalten vorlag, ist grundsätzlich die Frage nach dem „Warum?“ zu stellen. Dies gilt auch für die zahlreichen Fälle mit sogenanntem „persönlichem Fehlverhalten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“, weil sich auch hier etwa die Frage stellt, ob und wie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sicherstellen, dass sich ihre Beschäftigten entsprechend den Anweisungen verhalten. Mögliche Gründe liegen hier in der Durchführung der Unterweisung, im Verstehen von Anweisungen, in der Durchführbarkeit der Anweisungen an sich (technisch/organisatorisch) bzw. allen Faktoren, die unter „Sicherheitskultur“ zusammenzufassen sind: „Welchen Wert hat Arbeitssicherheit im Betrieb?“, „Welche Vorbildwirkung haben die Vorgesetzten?“.

  • Warum war die Arbeitnehmerin/der Arbeitnehmer abgelenkt?
  • Warum halten sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Gefahrenbereich auf?
  • Warum halten sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht an die Anweisungen?
  • Konnte man die Anweisung überhaupt einhalten – sind die Maßnahmen überhaupt praxisgerecht?
  • Haben die Arbeitnehmerinnen bzw. Arbeitnehmer die Anweisung verstanden?
  • Gab es didaktische Mängel? Nur Frontalunterricht oder was?
  • Planung oder geniale Improvisation vor Ort?
    • Wissen die Planerinnen bzw. Planer, die Arbeitsvorbereiterinnen und -vorbereiter überhaupt, was sie mit ihrer Arbeit „anstellen“?
  • Wie schaut es mit der Sicherheitskultur im Betrieb aus?
    • Sind die Vorgesetzten Vorbilder?
    • Welchen Wert hat Arbeitssicherheit im Betrieb? Geht der Kundenauftrag vor Sicherheit?

Licht, Luft, Sonne, Platz – „Bürokratie“ im Arbeitnehmerschutz

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbringen einen erheblichen Teil ihres Lebens am Arbeitsplatz. Ziel der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber soll es sein und ist es auch, dass effizient, sicher und gesund gearbeitet werden kann. Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach räumlicher, zeitlicher und sozialer Orientierung, nach einem Sicherheitsgefühl und einem Gefühl der eigenen Kontrolle, nach geistiger Aktivierung und Erholung sowie nach Kontakt mit der Natur und der Sonne.

Was beeinflusst Arbeitsleistung, Gesundheit und Arbeitszufriedenheit nun positiv?

  • Platz! Zu dichte Besetzung auf einer verhältnismäßig geringen Fläche führt zu Stress und Lärm.
  • Raum! Zu geringe Raumhöhe bzw. generell eine zu geringe Raumgröße führen zu einem Gefühl des Eingeengtseins und in der Folge zu Stress.
  • Luft! Sauerstoffgehalt, CO2-Gehalt, Verunreinigungen.
  • Licht! Natürliche Belichtung und passende Arbeitsplatzbeleuchtung.

Die Arbeitsstättenverordnung enthält dazu aufeinander abgestimmte Parameter für Raumhöhe, Raumgröße, freie Bodenfläche, Fenster und Lüftungsflächen.

Anmerkungen zur Menschenwürde

  • Wohl niemand möchte stundenlang in engen, dunklen, stickigen Räumen arbeiten. Ebenso wenig wollen die meisten Menschen, dass ihnen ihre Kolleginnen und Kollegen permanent „auf die Pelle rücken“.
  • Auch hat jede bzw. jeder sicher gern einen Platz, wo sie bzw. er die Pausen verbringen kann.
  • Von den Toiletten und Waschgelegenheiten braucht man wohl nicht zu reden (oder doch?).

Schwerpunkte der Arbeitsinspektion 2017 und 2018

Sicherheit und Gesundheit von Leiharbeiterinnen und -arbeitern

Der Beratungs- und Kontrollschwerpunkt der österreichischen Arbeitsinspektion stellt eine Gelegenheit dar, Zeitarbeitsagenturen (Überlasser) und Beschäftiger über deren Verpflichtungen auf dem Gebiet des ArbeitnehmerInnenschutzes zu informieren und Missstände aufzuzeigen.

Ziel ist die Kontrolle und Beratung, inwieweit die betreffenden Schutzvorschriften von Überlassern und Beschäftigern von Arbeitskräften (Leiharbeitnehmerinnen/-nehmer) eingehalten werden, auch bei der Durchführung von Bauarbeiten. Zugang wird in der ersten Phase über die Überlassungs-Agenturen erfolgen, um dann weiter auf die Beschäftiger ausgerollt zu werden.

Die wichtigsten sicherheitsrelevanten Themen sind dabei:

  • Information der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über die Anforderungen des Zeitarbeitsplatzes vor der Überlassung
  • Unterweisung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über gefahrenverhütende Maßnahmen am Zeitarbeitsplatz
  • Sicherstellung erforderlicher gesundheitsüberwachender Maßnahmen
  • Gefahrenermittlung und -beurteilung, Setzen von Maßnahmen
  • Zur-Verfügung-Stellen von persönlicher Schutzausrüstung
  • Meldung von Arbeitsunfällen und Berufserkrankungen

Kanzerogene Arbeitsstoffe

Der Zeitpunkt, das Thema „Kanzerogene“ verstärkt zu behandeln, ist aus mehreren Gründen sinnvoll. Sowohl aufgrund von EU-Kampagnen (Arbeitsstoffe 2018–2019 und Roadmap „Amsterdam to Vienna on Carcinogens“, 2016–2019) als auch aufgrund einer Studie von Jukka Takala, die zeigt, dass nur rund ein Zehntel der Krebserkrankungen, die durch Arbeitsstoffe verursacht wurden, auch als solche erkannt werden, und nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Diskussion über risikobasierte Grenzwerte stehen Kanzerogene im Fokus. Dieser Fokus soll genutzt werden, um das Thema stärker im Bewusstsein zu verankern und eine erhöhte Gesetzeskonformität herzustellen.

Dieser Beratungs- und Kontrollschwerpunkt ist eingebunden in die österreichische ArbeitnehmerInnenschutzstrategie. Ziel ist unter anderem das „Aufspüren“ und Verbreiten von Lösungen aus der Praxis und die Sensibilisierung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Zusammenfassung

Aus der Sicht der Arbeitsinspektion stellt der Autor grundsätzliche Überlegungen zur Erhebung von Arbeitsunfällen an, macht sich Gedanken zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und gibt einen Ausblick auf neue Schwerpunktaktionen.


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