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Digitale Technologien

Digitale Technologien im Vormarsch

Zur Arbeitsplatzevaluierung, Gefährdungsbeurteilung sowie für Beratungs- und Schulungszwecke haben sich zuletzt immer mehr digitale Technologien etabliert, die einen sinnvollen Einsatz an unterschiedlichsten Arbeitsplätzen finden können. Dazu gehören sensor- und kamerabasierte Systeme zur Bewegungsanalyse, Eyetracking sowie Virtual-Reality-Anwendungen, die auch im Fachbereich Ergonomie der Hauptstelle der AUVA zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen angeboten werden.

Ein Mann trägt eine VR-Brille
N. Lechner

Den Spitzenplatz unter diesen neuen Anwendungen nimmt das System Captiv (TEA Ergo Inc., USA) ein. Dieses ermöglicht sensorbasierte Bewegungsanalyse, die Synchronisation mit Videoaufnahmen sowie die Kombination mit Eyetracking oder Virtual-Reality-Anwendungen. Im Grunde werden dabei in ihrem ursprünglichen Einsatz und ihrer Funktionsweise unterschiedliche Technologien kombiniert.

Ein hoher Anteil von arbeitsbedingten Rückenerkrankungen ist auf manuelle Lastenhandhabung wie Heben, Tragen, Ziehen, Schieben sowie Zwangshaltungen zurückzuführen. Die dabei oftmals auftretenden Missverhältnisse zwischen mechanischen Belastungen und Belastbarkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter erfordern eine adäquate Gefährdungsbeurteilung sowie Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Ergonomie und Arbeitsplatzgestaltung.

Das System „Captiv“ besteht aus einer Vielzahl von Sensoren zur Erfassung physiologischer Parameter, die mit Video synchronisiert werden und im Weiteren detailliert ausgewertet und interpretiert werden können. Ergänzend zur Video- und Bewegungsanalyse kommt mit „Eyetracking“ die Blickanalyse hinzu. Belastungen durch Sehaufgaben können mit einer speziellen Datenbrille erfasst werden und lassen Rückschlüsse auf die Arbeitsermüdung zu.

Virtual Reality ist seit einigen Monaten zusätzlicher Schwerpunkt im Fachbereich Ergonomie. Durch das Forschungsprojekt „VeRgonomiX“, in Kooperation mit der FH St. Pölten, entstanden diverse Anwendungen, wie etwa ein virtueller Lagerraum zum Trainieren von Hebetätigkeiten, eine virtuelle Bohrmaschine zum Erlernen der Einstellung und Optimierung von Arbeitshöhen und Greifräumen, oder ein virtuelles Baugerüst zur Prävention von Sturz und Fall. Durch die Kombination mit der Bewegungsanalysesoftware Captiv Motion wird ein gemeinsames System aus virtueller Anwendung und Analyse realisiert.

„Human dynamics“ ist ein neues kamerabasiertes System zur Erfassung der Körperhaltung mit Live-Feedback und wird seit Kurzem ebenfalls in der Fachgruppe eingesetzt.

Die Synchronisationssoftware Captiv Motion ist ein hochmodernes und flexibles System für die Aufzeichnung und Analyse physiologischer Messwerte. Daten, die mit einer Vielzahl von Sensoren (sogenannten „inertial measurement units“/IMUs) und einem Datenerfassungssystem erfasst wurden, können mit einer Videoaufnahme synchronisiert und nach der Messung ausgewertet werden. Mittels Live-Receiver kann man diese sogar während der Tätigkeit verfolgen. Mittels dieser Software lassen sich ungünstige Körperhaltungen oder Bewegungsabläufe leicht identifizieren. Zur Beurteilung insbesondere der rotatorischen und translatorischen Bewegungen der oberen Extremitäten hat sich die Synchronisation von Videobildern und gemessenen Gelenkwinkeln bei Tests und Einsätzen an unterschiedlichsten Arbeitsplätzen bereits als äußerst sinnvoll erwiesen.

Die oftmals auftretenden Missverhältnisse zwischen mechanischen Belastungen und Belastbarkeit erfordern eine adäquate Gefährdungsbeurteilung sowie Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Ergonomie und Arbeitsplatzgestaltung.

Norbert Lechner

Zur besseren Beurteilung können wissenschaftliche Quellen und Normen herangezogen werden, die für die verschiedenen Bewegungsrichtungen der Extremitäten Grenzbereiche ausweisen.

Die Bewegungsanalyse mit Beschleunigungssensoren ist vom „Motion Capturing“ zu unterscheiden. Unter Motion Capture, wörtlich Bewegungserfassung, versteht man ein Tracking-Verfahren, das es ermöglicht, jede Art von Bewegungen so zu erfassen und in ein computerlesbares Format umzuwandeln, sodass ein Computer die Bewegungen aufzeichnen, weiterverarbeiten, analysieren und zur Steuerung von Anwendungen verwenden kann. Ein Beispiel für ein solches Bewegungsanalysetool ist Kinect, eine Hardware zur Steuerung der Videospielkonsole Xbox 360. Sie wurde von Microsoft gemeinsam mit der Firma PrimeSense entwickelt. Spielerinnen und Spieler können damit allein durch Körperbewegungen die Software bedienen. Diese neue Art der Steuerung wird durch eine Kombination von PrimeSense-Tiefensensor, einem 3D-Mikrofon, einer Farbkamera und der dazugehörigen Software ermöglicht. Die Technologie eignet sich jedoch kaum für den Einsatz an realen Arbeitsplätzen.

Im Gegensatz dazu wurde am Laboratory for Biosignal Processing der Hochschule für Technik Wirtschaft und Kultur Leipzig das Analysetool von Human Dynamics als computerbasiertes System zur Arbeitsplatzanalyse entwickelt. Es eignet sich zur Analyse, Bewertung und Videodokumentation körperlicher Belastungen bei Arbeitsabläufen und wurde ursprünglich für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von BMW entwickelt, um an Trainingsarbeitsplätzen die notwendigen Arbeitsabläufe anzutrainieren. Eine Kamera erfasst die Person, die Software erstellt aus den erfassten Daten ein „Ergomännchen“, an dem Körperzonen nach Belastung von grün über gelb bis rot eingefärbt sind und einzelne Arbeitsschritte oder Bewegungsabläufe analysiert werden können.

Die Bewegungserfassung bei dem sensorbasierten System Captiv funktioniert über Beschleunigungssensoren, die kabellos mit Manschetten am Körper angebracht werden.

Inertialmesssensoren, sogenannte IMUs, beinhalten ein 3-Achsen-Gyroskop, ein 3-Achsen-Accelerometer und ein 3-Achsen-Magnetometer. Mit diesen Inertialsensoren können Gelenkwinkel, Winkelgeschwindigkeiten sowie Winkelbeschleunigungen gemessen werden. Mit einem EKG-Sensor, der das EKG, die Herzfrequenz sowie die Herzfrequenzvariabilität misst, kann man die Belastung auf das Herz-Kreislauf-System ableiten. Die Captiv-Hardware ermöglicht auch eine Elektromyografie (EMG) des elektrischen Potenzials, das durch den Muskel erzeugt wird. Aus der EMG kann man auf Muskelaktivität und -beanspruchung rückschließen, mit Sensoren für Druck und Zugkraft kann man zusätzlich weitere physiologische Parameter erfassen. Die von den Sensoren erfassten Werte werden drahtlos über Bluetooth an einen Datenlogger übertragen, der die Hardware komplettiert. Alle Sensoren sind kabellos, haben die Größe einer Zündholzschachtel, werden lediglich mittels Manschetten über oder unter der Kleidung angebracht und bieten so uneingeschränkte Bewegungsfreiheit.

Ein Captiv-System nimmt Bewegungsabläufe eines Arbeiters auf
Das System „Captiv“ besteht aus einer Vielzahl von Sensoren zur Erfassung physiologischer Parameter, die mit Video synchronisiert werden und im Weiteren detailliert ausgewertet und interpretiert werden können. N. Lechner

Aus den bestehenden Video- und Messreihen sind die relevanten Daten zur Bearbeitung zu extrahieren. Die Intervalle bzw. Zeitpunkte der Datenauswertung sollten an den Punkten der größten zu erwartenden Belastung erfolgen. Neben einer Langzeitauswertung über einen vollständigen Bewegungszyklus bietet sich auch eine schwerpunktmäßige Auswertung an. Am Ende stehen mehrere Möglichkeiten zur Darstellung der benötigten Ergebnisse zur Verfügung. Für Statistiken und wissenschaftliches Arbeiten können die Rohdaten auch als *csv-files in der ursprünglich gemessenen Frequenz exportiert werden.

 

Captiv Motion wird von der Fachgruppe Ergonomie der AUVA-Hauptstelle im Rahmen der Beratung in bzw. an unterschiedlichsten Betrieben und Arbeitsplätzen eingesetzt, auch die Forschung steht im Fokus. Im Rahmen des vom Autor initiierten Forschungsnetzwerks „Science in ergonomics in cooperation with FH Technikum Wien“ werden Projekte und Studien an Masterstudierende der FH Technikum vergeben, die gemeinsam mit FH-Prof.

Neben dem Erfassen der physiologischen Daten wird zeitsynchron eine Videoaufzeichnung erstellt, deren Start- und Endpunkt ident sein muss, um die Daten im Anschluss synchronisieren zu können. Die Captiv-Software ermöglicht nicht nur das Einlesen eines einzelnen Videobildes, sondern gegebenenfalls auch mehrerer Videosequenzen. Alle Bilder und Messwerte lassen sich beliebig einander zuordnen und synchron darstellen, sodass die Nutzer in Echtzeit beliebige Messpunkte oder Videosequenzen ansteuern und nach Vakanz auswerten können.

Dr. Matthias Scherer am Laboratory for Biosignal Processing der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur durchgeführt werden.

Bereits erfolgreich umgesetzt wurden Arbeiten zu Themen wie „Evaluierung der Rumpfbewegungen mit Inertialmesssensoren beim Gerüstbau“ oder „Erfassung der Muskelbeanspruchung im Schulter- und Nackenbereich beim Tragen einer Augmented-Reality-Brille“, „Entwicklung eines Prüfstandes zur Messung von Druck- und Zugkräften beim Ziehen und Schieben von Lasten“ oder „Studie zur Erfassung der Auswirkungen von Unterstützungssysteme im Bereich der Lendenwirbelsäule auf Haltungskontrolle und Rumpfstabilität“, „Entwicklung eines Exoskeletts für die unteren Extremitäten“ – um nur einige Beispiele zu nennen. Das Forschungsnetzwerk bildet Synergien zwischen Firmen, die Anfragen an die AUVA stellen, und Studierenden, die sich, unter Anleitung des Autors und Prof. Scherer, mit Industriethemen auseinandersetzen möchten. Dieses Dreieck aus AUVA, Industrie und FH Technikum Wien ermöglicht den Transfer von Wissen von Expertinnen und Experten dorthin, wo akuter Handlungsbedarf besteht. 

Eyetracking

Screenshot eines Erfassungssystems mit Eyetracking und Captiv Motion
In Kombination mit Motion Capturing bietet Eyetracking einzigartige Möglichkeiten, Bewegungsanalyse und Blickerfassung gleichzeitig einzusetzen. N. Lechner

Mit einem Eyetracking-System wird für visuelle Wahrnehmungs- und Blickverlaufsmessungen am Arbeitsplatz ein weiteres Tool im Bereich der Ergonomie eingesetzt. Erfasst wird das periphere, foveale und parafoveale Sehen. Das auch im Bereich Verkehrssicherheit oder Arbeitspsychologie verwendete System bietet in Kombination mit den Captiv-Sensoren eine enorme Analysevielfalt.

Der Eyetracker sendet infrarotnahes Licht aus. Dieses wird von den Augen reflektiert und die Reflexionen werden vom Eyetracker erfasst. Durch Filterung und Berechnung erkennt der Eyetracker, wo eine Person hinsieht. Es geht um das Aufzeichnen der hauptsächlich aus Fixationen (Punkte, die man genau betrachtet) und Sakkaden (schnelle Augenbewegungen) bestehenden Blickbewegungen. Die vier Augenkameras ermöglichen ein präzises und genaues Verfolgen der Blickbewegungen in einem breiten Blickfeld. Wie kann dieses System nun Eingang in der Ergonomie finden? In Kombination mit Motion Capturing bietet es einzigartige Möglichkeiten, Bewegungsanalyse und Blickerfassung gleichzeitig einzusetzen. In der Captiv-Software kann neben dem Eyetracking-Video das Video von außen, das den Arbeitsablauf festhält, synchronisiert werden. Auch physiologische Messwerte wie Herzfrequenz- und -variabilität, EMG, Zug- und Druckkräfte, oder Gelenkwinkelwerte können erfasst werden.

Virtual Reality und Augmented Reality

Das Bild zeigt einen Mann an einer Produktionsstraße für Gartengeräte. Dieser Mann trägt eine Eyetracking-Brille
Der Eyetracker erkennt, wo eine Person hinsieht. N. Lechner

Mit Virtual Reality (VR) gibt es eine weitere Technologie, die es ermöglicht, sich als Mensch in künstlich generierte Umgebungen zu versetzen – als ob man tatsächlich an einem anderen Ort wäre. Alles, was notwendig ist, ist eine VR-Brille (ein sogenanntes Head-Mounted Display/HMD). Die notwendigen Visualisierungen werden auf einem Computer erzeugt und statt auf einem klassischen Bildschirm auf Displays in der VR-Brille angezeigt. Diese Displays werden auf dem Kopf direkt vor den Augen getragen, bewegen sich mit jeder Kopfbewegung mit und können damit immer den passenden Bildausschnitt aus der virtuellen Welt anzeigen. Benutzer bekommen den Eindruck, als wären sie mittendrin in der künstlich generierten Welt.

Zusätzlich ist es möglich, über an menschliche Hände angepasste Eingabegeräte (Handcontroller) mit Objekten in der virtuellen Welt zu interagieren, etwa virtuelle Objekte zu manipulieren. Bei vielen VR-Systemen werden noch externe Sensoren wie Infrarot-Kameras oder Laser-Tracker zur Messung der absoluten Position des HMDs im Raum eingesetzt.

Screenshot von zwei virtuellen 3D-Figuren, die einander einen Ball zuwerfen
Mit Virtual Reality bekommen Benutzerinnen und Benutzer den Eindruck, als wären sie mittendrin in der künstlich generierten Welt. FH St. Pölten

Im Rahmen des Projekts VeRgonomiX mit der FH St. Pölten (Institut für Health Sciences und Institut für Creative Media Technologies) wurden drei virtuelle Trainingsräume entwickelt, die im Fachbereich Ergonomie der AUVA-Hauptstelle eingesetzt werden. Ziel war es, Räume zu generieren, in denen möglichst viele unterschiedliche Berufsgruppen trainiert werden können. In einer virtuellen Lagerhalle geht es darum, das Erlernen von Hebetätigkeiten zu verinnerlichen. In einer virtuellen Fabrik soll an einer virtuellen Bohrmaschine erlernt werden, Arbeitshöhen und Greifräume optimal einzustellen. Da die VR-Anwendungen ebenso wie das Eyetracking-System mit dem Captiv-Bewegungsanalysesystem kompatibel sind, sind Körperhaltungen und Bewegungsabläufe erfassbar und lassen somit eine optimale Analyse und Schulung zu.

Das virtuelle Gerüst als dritte Anwendung soll zur Prävention von Sturz und Fall eingesetzt werden. Die Teilnehmenden müssten dazu auf einem Baugerüst über Hindernisse steigen. Dieses ist in der Höhe und in der Breite verstellbar. Durch haptisches Feedback bei Betreten des Rands lassen sich Gleichgewichts- und Koordinationstraining durchführen. Man kann in der Virtual Reality beliebige Szenarien darstellen. Auch solche, die in der Realität nicht oft vorkommen, können hier immer und überall durchgeführt und trainiert werden. Unter dem Begriff Augmented Reality (AR), übersetzt „erweiterte Realität“, versteht man die computerunterstützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Diese Information kann alle menschlichen Sinnesmodalitäten ansprechen. Häufig werden jedoch unter der Erweiterung nur visuelle Darstellungen von Informationen verstanden, die Ergänzung von Bildern, Videos oder computergenerierten Zusatzinformationen oder überlagerte virtuelle Objekte.

Im Rahmen des zweijährigen Projekts IMPACTs-XR mit der Technischen Universität Wien, FH St. Pölten, FH Joanneum, ecoplus. Niederösterreichs Wirtschaftsagentur GmbH und 20 Partnerunternehmen über das Förderprogramm „Collective Research“ der FFG Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH werden Use Cases für AR & VR-Anwendungen für die teilnehmenden Unternehmen ausgearbeitet. Hierbei ist auch die AUVA involviert. Für den Fachbereich der Ergonomie soll der Einsatz von Augmented Reality in der Arbeitsplatzanalyse, Schulung und Beratung etabliert werden, um Präventions- und Forschungsarbeit stetig zu verbessern.

Zusammenfassung

Zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen setzt der Fachbereich Ergonomie der AUVA verstärkt auf digitale Technologien. Sensor- und kamerabasierte Bewegungsanalysesysteme, Eyetracking und Virtual-Reality-Anwendungen können in den verschiedensten Branchen und an den unterschiedlichsten Arbeitsplätzen eingesetzt werden. 


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