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Wie verständlich ist das ADR?

LKW auf einer Straße
Adobe Stock

Womit, geneigte Leser:innenschaft, wir ein neues Mitglied im Reigen der ADR-Mitgliedstaaten begrüßen können: Armenien mit der Hauptstadt Jerewan im Transkaukasus ist ADR-Mitglied geworden! Die geostrategisch spezielle Lage in der Nachbarschaft zum Iran und zur Türkei sowie auch innerhalb der Kaukasusregion mit, na sagen wir mal, schwierigen Beziehungen zu den Nachbarn Georgien und Aserbaidschan kann fast schon sinnbildlich für die teilweise durch Übersetzungseigenarten und auch -fehler der ADR-Sprachen Französisch, Englisch und Deutsch bedingten Verständniswirren einiger Formulierungen dieses Regelwerkes dienen.

Gott sei Dank erfolgen nun im ADR 2023 die sprachlichen Bereinigungen wesentlich unblutiger als die oben angedeuteten Fehden mit den Nachbarn. Ob die Texte dadurch verständlicher werden, darf aber leider bezweifelt werden. Speziell Techniker mit der Muttersprache Deutsch neigen anscheinend dazu, einfache Sachverhalte enorm komplex auszudrücken oder zumindest so zu umschreiben! 

Um nochmals auf Jerewan zurückzukommen: Kaum jemand weiß, dass die Stadt mit der Matenadaran-Bibliothek mit Tausenden von antiken griechischen und armenischen Manuskripten einen wahren Altertumsschatz besitzt. Das ADR mit seiner aktuellen Struktur und den vorliegenden Texten wird es hingegen auch in einigen hundert Jahren ganz sicher nicht ins Weltkulturerbe des einfachen und verständlichen Transportrechts geschafft haben! Doch genug gelästert – von den 32. Münchner Gefahrguttagen gibt es auch eine Reihe positiver Dinge zu berichten!

Neuerungen im ADR 2023

Jörg Holzhäuser stellte wie immer zu Beginn der Veranstaltung zahlreiche Neuerungen und Anpassungen in den Gefahrgutvorschriften vor, die hier nur auszugsweise wiedergegeben werden. In 1.2.1 wurden die Begriffe, in 1.2.2. Maßeinheiten und in 1.2.3 die Abkürzungen im Regelwerk des ADR selbst neu strukturiert und sprachlich angepasst bzw. klarer formuliert. Es gibt aber auch eine Reihe beachtenswerter Neuerungen:

  • 1.1.4.7 Wiederbefüllbare Druckgefäße für Gase, die vom Verkehrsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika zugelassen wurden, sind nun ADR-kompatibel. Die Befüllung der Druckgefäße erfolgt nach dem „Part 178, Specifications for Packagings of Title 49, Code of Federal Regulation“ der USA.
  • 1.1.5 Anwendung von Normen: Wenn die Anwendung einer Norm vorgeschrieben ist und ein Widerspruch zwischen der Norm und den Vorschriften des ADR/RID/ADN besteht, haben die Vorschriften des ADR/RID/ADN Vorrang! Die Anforderungen der Norm, die nicht in Widerspruch zum ADR/RID stehen, müssen wie festgelegt angewendet werden, einschließlich Anforderungen einer anderen Norm oder von Teilen einer Norm, auf die in dieser Norm normativ verwiesen wird.
  • geänderte Vorschriften für Druckgefäße und deren Verschlüsse sowie Anpassung und Klarstellung von Begriffen
  • Klärung der Bedeutung des Begriffs „Druckbehälter“, um ihre Verschlüsse einzuschließen oder auszuschließen. Hier werden Verschlüsse von Druckgefäßen, wie zum Beispiel Ventile, Druckentlastungseinrichtungen, Druckmessgeräte oder Füllstandsanzeiger geregelt.
  • neue Regelungen für ortsbewegliche Tanks aus faserverstärkten Kunststoffen (FVK) in Kapitel 6.9
  • neue Vorgehensweisen für die Verwendung von Recycling-Kunststoffen bei IBC
  • Änderung der Benennung von UN 1012 Buten in Butene, Gemisch, But-1-en, cis-But-2-en und trans-But-2-en
  • Klarstellung der Anwendung und Zuordnung zu UN 1012 für bestimmte Butene-Isomere
  • neue UN 3550 für Cobaltdihydroxid-Pulver Klasse 6.1 VG I
  • Änderungen in 7.1.4 ADR: Großcontainer dürfen für die Beförderung nur verwendet werden, wenn diese in bautechnischer Hinsicht geeignet sind.
  • Kapitel 6.2: Neue Regelung für verschlossene Kryo-Behälter – Vorgaben während und nach der Herstellung für Prüfungen gemäß Auslegungsnormen oder anerkannten technischen Regeln. Klarstellung der Prüffristen für Tanks zur Beförderung tiefgekühlt verflüssigter Gase (Kapitel 4.3 und 6.8)
  • Regelungen für „besonders große“ Tankcontainer
  • neue Ausrüstungsregelung in 6.8.3.2.9 für Tanks für entzündbare verflüssigte Gase mit Sicherheitsventilen (Ergebnis aus der BLEVE-Arbeitsgruppe)
  • Änderung und Neuerungen in der Begriffsbestimmung/Definition für:
    • Druckfass: (geändert)
    • Druckgaspackung: (geändert)
    • Druckgefäß: (geändert)
    • Flasche: (geändert)
    • Flaschenbündel: (geändert)
  • Weitere Änderungen und Neuerungen
    • Gefäß, klein, mit Gas (Gaspatrone): (geändert)
    • Metallhydrid-Speichersystem (geändert)
    • Großflasche: (geändert)
    • umformte Flasche: (geändert
    • Verschluss: (geändert)
  • 1.6.4.64 neue Regelungen für Tankcontainer, die mit Sicherheitsventilen ausgerüstet sind: Hier muss in Zukunft pro Ventil ein 25 × 25 cm großes Extraschild neben dem Sicherheitsventil angebracht werden!
  • SV 363 UN 3528, 3529, 3530Absatz j) Bemerkung neu: Für die UN-Nummern 3528 und 3530 gilt: Motoren oder Maschinen mit einem Fassungsraum von mehr als 450 Litern, die jedoch eine Menge an flüssigem Brennstoff von weniger als 60 Liter enthalten, dürfen nach den oben genannten Vorschriften bezettelt und mit Großzetteln (Placards) versehen sein.

Polen: ein Land, 16 ADR-Auslegungen

Den besten Vortrag (und auch den mit dem größten Unterhaltungswert!) lieferte jedoch Marek Rózycki mit seiner Schilderung der Umsetzung der ADR-Vorschriften in Polen ab! In den 16 Woiwodschaften, in die Polen verwaltungstechnisch aufgeteilt ist, wird das ADR 16-mal unterschiedlich ausgelegt! Generell werden die Fristen für die Inkraftsetzung der jeweils neuen ADR-Version in beharrlicher Regelmäßigkeit verfehlt.

Polen weist zudem gleich eine Reihe von „Besonderheiten“ auf, die in einer Mischung aus „Potemkin’scher Dorfbeschreibung“ durch den „Hauptmann von Köpenick in polnischer Version“ unnachahmlich dargebracht wurden:

  • Polen führt um 30 % mehr Kontrollen durch als geplant!
  • Strafen werden als Spende an die Wohlfahrtseinrichtungen des polnischen Staates verstanden (erinnert frappant an die seinerzeitige Ansage im Bundesland Salzburg, mit ADR-Strafeinnahmen die Sozialleistungen zumindest mitfinanzieren zu wollen).
  • Der Gefahrgutbeauftragtenausbildungsnachweis (ein zutiefst persönliches Dokument!) kann gleich einem Führerschein entzogen werden!
  • Jahresberichte sind verpflichtend an die Behörde zu übermitteln! Das Vergessen dieser Übermittlung wird als schwerer Verstoß geahndet!
  • US-amerikanisches Militär muss sich nicht an die ADR-Vorschriften halten.
  • Es herrscht eine unklare Zuordnung der Verantwortung in der Logistikkette: Absender:in, Beförderer:Beförderin, Verpacker:in oder Befüller:in ist nicht notwendigerweise der:die, der:die die Tätigkeit tatsächlich ausführt!
  • Auch Leerformulare sind an die Behörde zu übermitteln!

Im Vortrag wurde unmissverständlich dargelegt, dass es in Polen zu unklaren Auslegungen des nicht wirklich leicht zu verstehenden ADR-Textes kommt, was teilweise der komplexen Staatsverwaltung geschuldet ist, teilweise einer umgelenkten und (absichtlich) missinterpretierenden Textauslegung zugunsten einer an sich nicht erlaubten Querfinanzierung im Budgetbereich.

Die wichtige Rolle der Gefahrgutbeauftragten

In weiteren Vorträgen wurde immer wieder auch die Rolle des:der Gefahrgutbeauftragten angesprochen und seine:ihre wichtige Position im Unternehmen dargelegt. Wichtige Eckpunkte der vorgetragenen Erkenntnisse seien an dieser Stelle zusammengefasst:

  • Der:Die Gefahrgutbeauftragter:-beauftragte ist nur Berater:in des:der Arbeitgebers:Arbeitgeberin und hat keine zwingende Linienverantwortung im hierarchischen Organigramm einer Firma oder Organisation! Letztverantwortung liegt bei dem:der Arbeitgeber:in!
  • Er:sie muss für die interne Überwachung der Vorschriften sorgen.
  • Eine Gefährdungsbeurteilung ist gemeinsam mit der Sicherheitsfachkraft (SFK) gemäß Kapitel 1.4. und 1.1.4.1 ADR durchzuführen.
  • Behörden sollten proaktiv eingebunden werden.
  • Als Fachkundige:r hat sie:er für Schulung und Unterweisung zu sorgen und diese auch durchzuführen.

CBTA lässt viele Fragen offen

Wirklich spannend wird ab 1. 1. 2023 die Umsetzung der neuen Schulungsverpflichtungen in der Luftfahrt. Die Vorgaben zum sogenannten CBTA – Competency-based Training and Assessment – lösen derzeit mehr Fragezeichen als Klarstellungen aus!

Auch unterliegt der Drohnentransport (z. B. Medikamente in unzugängliche Regionen) ebenfalls den Luftfahrt-Gefahrgutbestimmungen!

Die CBTA-Richtlinien bestehen im Wesentlichen aus 4 Bereichen: Wissen, Fachkunde, innere Einstellung (!) und Erfahrung. Während Wissen und Fachkunde in der praktischen Umsetzung sich gut vermitteln, prüfen und kontrollieren lassen, wird es mit der Überprüfung der inneren Einstellung schon schwieriger! Auch kann Erfahrung als zeitabhängiger Faktor nur mehr oder weniger rasch erworben werden, bestenfalls kann der Erfahrungsgrad berücksichtigt und beurteilt werden.

Auch für die Arbeitsplatzevaluierung ist diese Neugestaltung unter Berücksichtigung der Begleitfaktoren eine neue und interessante Herangehensweise im Sinne einer Prozess-, Funktions- und Arbeitsplatzanalyse! Schulungsbedarf und Schulungsgrad werden hier konsequenzbasiert nach Auswirkung und (individueller?) Fehleranfälligkeit ermittelt. In diesem System ergeben sich für das Gefahrgut jedenfalls 16 CUs, also Competency Units.

Das CBTA-System folgt folgendem Ablauf:

  • Assessment: Analyse der Aufgaben
  • Training Needs: Ermittlung des Trainingsbedarfs
  • Training: a.) Gestalten der Schulung und Beurteilungskriterienb.) Entwicklung des Schulungs- und Beurteilungsmaterialsc.) Durchführung der Schulung
  • Periodical competency assessment: Bewertung des Schulungs- und Beurteilungsprogramms

Die derzeit in der Luftfahrt üblichen Personalkategorien (PK) sollen bereits ab 2023 in das CBTA-System überführt werden: Unklar ist aber, wie die Prozesse im Detail aussehen werden. Auch die einheitliche Interpretierbarkeit hinsichtlich Zertifizierung könnte noch spannende Fragen aufwerfen, schlussendlich auch die folgende: Wer prüft die Prüfer?

Zu guter Letzt zeigte Dr. Jochen Brandt in einem wirklich hervorragenden Vortrag die Diskrepanzen zwischen der Gefahrgutwelt und den stofflichen Bestimmungen des Sicherheitsdatenblattes auf. In den USA werden diese Bereiche in den CFR 21 (Code of federal regulations) für das Chemikalienrecht und in den CFR 49 für das Gefahrgutrecht geregelt, selbstredend etwas anders als in Europa!

Den 29 GHS-Gefahrenklassen stehen 13 Gefahrgutklassen gegenüber, und zwar keinesfalls deckungsgleich! Und es gibt auch hier immer wieder Neuerungen: Es ist geplant, die endokrine Wirkung sowohl im Stoffrecht als auch im Gefahrgutrecht als (zu Recht erkannte!) gefährliche Eigenschaft abzubilden: Bisphenol A wird dann in Gemischen von einem Gehalt von bereits >/= 0,25 % zu einer Zuordnung zu UN 3077 oder UN 3082 führen.

Frage an Radio Eriwan

Am Ende der Veranstaltung mit zahlreichen inhaltstiefen und gut präsentierten Vorträgen könnte die Frage an Radio Eriwan stehen:

„Sehen Sie im Bereich des sinnvollen Umgangs mit Chemikalien und Gefahrgütern Licht am Ende des Tunnels?“

Antwort von Radio Eriwan: „Im Prinzip ja, aber nur wenn Sie den Vorhang zur Seite ziehen und ihn zum Überdecken der Unklarheiten benützen!“

Zusammenfassung

Der Autor fasst auf humorvolle Art die Ergebnisse der 32. Münchner Gefahrguttage zusammen. Diese fanden Ende Mai 2022 statt und boten einen Überblick über aktuelle Entwicklungen im Gefahrgutrecht.


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