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Muskel-Skelett-Erkrankungen und Psyche

Psychische Belastungen können sich negativ auf den Bewegungs- und Stützapparat auswirken. Kommen zu einer Schädigung des Muskel-Skelett-Systems psychische Probleme dazu, begünstigt das die Chronifizierung von Schmerzen.

Offensichtlich gestresste Büromitarbeiterin hat körperliche Beschwerden
Adobe Stock

Es ist ein Teufelskreis: Psychische Belastungen bewirken, dass sich die Muskulatur verspannt, was zu Beschwerden insbesondere im Bereich von Nacken, Schultern und Rücken führt. Ungünstige Arbeitsbedingungen können die Ursache für eine verminderte Konzentration sein. Aufgrund einer geringen Aufmerksamkeit werden Sicherheitsmaßnahmen oft vernachlässigt und die Unfallwahrscheinlichkeit steigt. Eine Verletzung oder Muskel-Skelett-Erkrankung (MSE) kann wiederum psychische Probleme verstärken, die zu einer Chronifizierung von Schmerzen beitragen. Allerdings gibt es Wege, aus dieser negativen Spirale auszubrechen – oder am besten erst gar nicht hineinzugeraten.

Um psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu vermeiden, ist es wichtig, deren Ursache zu erkennen und gegebenenfalls zu reduzieren. Diese werden im AUVA-Merkblatt M.plus 024 „Arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen“, das auch organisatorische und psychosoziale Risikofaktoren für MSE thematisiert, beschrieben. Stress-Situationen rufen körperliche Reaktionen hervor: Atem- und Herzfrequenz steigen, die Muskelspannung erhöht sich, Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet, mehr Energie ist verfügbar. Unsere frühen Vorfahren profitierten von diesem Mechanismus, da er sich in körperlich extrem fordernden Situationen wie Kampf oder Flucht als funktional erwies. War die Gefahr vorbei, setzte Entspannung ein. Heute haben wir es weniger mit wilden Tieren zu tun und doch rufen aktuelle Stress-Situationen dieselben Reaktionen hervor. Im täglichen Berufsleben können Arbeiten unter Zeitdruck, eine hohe Arbeitsanforderung bei geringem Handlungsspielraum und wenig Erholungsphasen längerfristig physische und psychische Fehlbelastungen hervorrufen.

„Steht man ständig unter Spannung, kann es zu Beeinträchtigungen des muskulären Systems und des Bewegungsapparats kommen“, erklärt Mag. Irene Lanner, Arbeits- und Organisationspsychologin der AUVA-Landesstelle Salzburg. Länger anhaltende psychische Belastung ohne ausreichende Entspannungsphasen hat einen sich selbst verstärkenden Effekt: Die verspannte Muskulatur beginnt zu schmerzen, woraufhin man eine Schonhaltung einnimmt. Diese verschlimmert jedoch die Problematik. Aus Angst vor dem Schmerz vermeidet man Bewegung, die einen Ausgleich zur verkrampften Haltung bieten würde, und die Beschwerden nehmen weiter zu.

Risikofaktoren für MSE

Ein gutes Arbeitsklima zählt zu den Rahmenbedingungen, die der:die Arbeitgeber:in im Sinn einer effektiven Verhältnisprävention schaffen sollte. „Schlechte Arbeitsbedingungen führen zu einer Kombination mehrerer Faktoren, die sich negativ auf das Muskel-Skelett-System auswirken, etwa Zwangshaltung am Fließband oder am Computer bei gleichzeitigem Zeitdruck bzw. zu wenigen Pausen“, so Lanner.

Physische Faktoren wirken direkt auf den Bewegungs- und Stützapparat ein, organisatorische und psychosoziale Faktoren indirekt, daher werden letztere oft nicht als Ursachen für Beschwerden erkannt

Rosemarie Pexa

Im Merkblatt „Arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen“ wird zwischen drei Gruppen von Faktoren unterschieden, die zur Entstehung arbeitsbedingter MSE beitragen. Bei den physischen Faktoren handelt es sich um körperlich belastende Arbeitsbedingungen und -anforderungen, bei den organisatorischen und psychosozialen Faktoren um Belastungen, die sich aus der Art der Arbeitsorganisation bzw. den Anforderungen an die Psyche ergeben oder die in Verbindung mit sozialen Bedürfnissen stehen. Die individuellen und soziostrukturellen Faktoren umfassen Vorerkrankungen, Lebensstil, physische Leistungsfähigkeit und den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Physische Faktoren wirken direkt auf den Bewegungs- und Stützapparat ein, organisatorische und psychosoziale Faktoren indirekt, daher werden letztere oft nicht als Ursachen für Beschwerden erkannt. Laut epidemiologischen Studien besteht ein Zusammenhang zwischen psychosozialen Faktoren insbesondere mit MSE im Schulterbereich. Das Erkrankungsrisiko steigt mit hohen Arbeitsanforderungen, geringer Kontrolle über die Arbeit und wenig sozialer Unterstützung.

Organisatorische Faktoren

Zu den häufigsten Stress auslösenden organisatorischen Faktoren gehören ein hohes Arbeitspensum, eine ungünstige Arbeitszeitgestaltung, ein geringer Handlungsspielraum und die fehlende Möglichkeit, die Arbeitshaltung zu verändern. Von Zeitdruck sind bestimmte Branchen wie Baugewerbe, Gastronomie, aber auch mobile Pflege besonders betroffen. Starre Arbeitszeiten erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Inhaltliche Überforderung aufgrund fehlender Qualifikation stresst genauso wie geistige Unterforderung durch monotone Arbeit.

„Der:die Arbeitgeber:in sollte darauf achten, dass sich die Beschäftigten ihre Tätigkeit so einteilen können, wie es für sie passt. Das heißt, dass sie flexible Arbeitszeiten, Mobile Office und Homeoffice in Anspruch nehmen und die Pausengestaltung selbst bestimmen können, wenn das möglich ist“, führt Lanner organisatorische Verbesserungsvorschläge an. Dafür müssen die Führungskräfte den Arbeitnehmern:Arbeitnehmerinnen vertrauen, ohne ständig kontrollierend einzugreifen.

Als belastend werden auch unklare bzw. widersprüchliche Aufträge empfunden, etwa wenn abteilungsinterne Vorgaben nicht mit den Prioritäten einer anderen Abteilung übereinstimmen. Mitunter ist es für Mitarbeiter:innen unmöglich, den verschiedenen Ansprüchen gerecht zu werden. So soll ein:e Servicemitarbeiter:in beispielsweise möglichst schnell Ersatzteile für einen Kunden beschaffen, muss sich aber an den langwierigen innerbetrieblichen Bestellprozess halten. Oft spielt zusätzlich Zeitdruck eine Rolle – etwa, wenn sich eine Pflegefachkraft um ihre Patienten:Patientinnen kümmert und nebenbei alle pflegerischen Tätigkeiten dokumentieren muss.

Psychosoziale und individuelle Faktoren

Psychosoziale Faktoren, die Stress verursachen, sind häufig auf destruktive oder fehlende Kommunikation zurückzuführen, z. B. auf mangelnde Rückmeldungen von Vorgesetzten. Auch zu wenig Unterstützung und Wertschätzung durch Führungskräfte oder Kollegen:Kolleginnen sowie ungelöste Konflikte am Arbeitsplatz belasten psychisch. In personenbezogenen Dienstleistungsberufen wie in der Pflege, im Handel oder im Kundendienst sind Beschäftigte in der Ausführung ihrer Tätigkeit emotional sehr gefordert. Eine kurze Ablöse oder Unterstützung bei besonders schwierigen Kundengesprächen kann hier Abhilfe schaffen.

Psychische Belastungen zu reduzieren gelingt jenen Führungskräften am besten, die sich sozialkommunikative Kompetenz angeeignet haben. Diese hilft, in Gesprächen mit Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen zu erkennen, wie es ihnen geht, in welchen Bereichen sie ihre Stärken einbringen können und ob sie sich weiterqualifizieren wollen. „Arbeitnehmer:innen sind dann zufrieden, wenn sie als Person wertgeschätzt werden, für ihre Tätigkeit Anerkennung erfahren, eine Möglichkeit bekommen sich weiterzuentwickeln und ihre Arbeit als sinnstiftend einordnen“, so Lanner.

Die individuellen Risikofaktoren für MSE spielen einerseits generell bei der Stressbewältigung, andererseits speziell im Hinblick auf eine Chronifizierung von Schmerzen eine wesentliche Rolle. Psychische Probleme erhöhen das Risiko einer Chronifizierung. Der:die Arbeitgeber:in kann durch wertschätzenden Umgang und die Reduktion ungünstiger Arbeitsbedingungen zur Prävention beitragen.

Aus der Sicht der Ärztin:

Zusammengefasst von Isabel Kaufmann

Rückenschmerzen sind der häufigste Grund, warum Menschen Ärzte:Ärztinnen aufsuchen. In 85–90 % der Fälle handelt es sich dabei um unspezifische Rückenschmerzen, d. h., es findet sich kein Hinweis auf eine spezifische Erkrankung (z. B. Bandscheibenvorfall etc.), welche die anhaltende Schmerzsymptomatik ausreichend erklären kann. Andauernde Schmerzen und die zunehmende Einschränkung dabei, den gewohnten Tätigkeiten nachzugehen bzw. den Beruf auszuüben, werden als sehr belastend erlebt. Die Angst vor dem Schmerz bei Bewegung führt zu einem Vermeidungsverhalten mit zunehmender körperlicher Inaktivität und verstärkt die Schmerzwahrnehmung. Der Zusammenhang von psychologischen Faktoren, individuellem Krankheitsverhalten und sozialen Faktoren ist oft auch für die Betroffenen nicht klar ersichtlich.

Laut den Erhebungen der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) vergehen von den ersten Symptomen bis zur Erstellung der richtigen Diagnose bzw. Benennen und Akzeptieren einer psychosomatischen (Schmerz-)Erkrankung durchschnittlich 2,5 Jahre. In diesem Zeitraum konsultiert ca. ein Drittel der Schmerzpatienten:-patientinnen mehr als fünf Ärzte:Ärztinnen. Die ständige Suche nach einer organischen Erklärung bzw. Diagnose bestimmt zunehmend das Leben. Die Schwierigkeit des sozialen Umfelds, einen Menschen mit chronischen Schmerzen zu verstehen, können zu einem Gefühl der Hilflosigkeit, Resignation, reaktiver Depression und sozialem Rückzug führen. Schmerzen, die länger als 3 Monate andauern bzw. immer wiederkehren, sind als chronisch zu bezeichnen. Die Beschwerden sind multifaktoriell bedingt, wobei neben degenerativen Veränderungen psychische Belastungen, etwa durch private oder berufliche Konflikte, die einen anhaltenden Stressfaktor darstellen, eine wichtige Rolle spielen. Wie intensiv wir Schmerzen empfinden, wie sehr sie uns Angst machen, hängt nicht nur vom reinen Nervensignal ab, sondern ist ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren, zu denen auch unsere familiären und kulturellen Erfahrungen im Umgang mit Schmerz zählen. (Z. B.: Durften wir in unserer Kindheit Schmerzen zeigen oder wurde uns vermittelt, dass das ein Zeichen für Schwäche ist?) Deshalb sprechen Experten auch von „bio-psycho-sozialem Schmerz“, den jeder Mensch anders empfindet. Chronische Schmerzen können in einen Teufelskreis von Schonung und reaktiver Depression führen, was sich wiederum negativ auf das Schmerzempfinden auswirkt.

Psychische Vorerkrankungen wie Depressionen oder auch Angststörungen können ebenso die Chronifizierung von Schmerzen begünstigen. Eine gezielte Behandlung kann erst beginnen, wenn die Symptome als psychosomatisch diagnostiziert werden. Für Betroffene ist es oft schwer zu akzeptieren, dass ihre Beschwerden psychisch und nicht körperlich begründet sind. Die Tatsache, dass Stress krank machen kann, ist noch immer zu wenig bekannt.

Die Länge des Krankenstands ist ein entscheidender Faktor bei der Chronifizierung von Schmerzen: Je länger dieser dauert, umso ungünstiger ist die Prognose. Die Empfehlung für Schmerzpatienten:-patientinnen lautet daher, möglichst rasch wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren und im Rahmen des Möglichen körperlich aktiv zu bleiben, um den Teufelskreis des sozialen und beruflichen Rückzugs zu durchbrechen. Nicht selten trauen sich Betroffene, insbesondere nach längeren Fehlzeiten, nicht mehr an den Arbeitsplatz zurück – sie fürchten die negativen Reaktionen der Kollegen:Kolleginnen und Vorgesetzten.

Umso wichtiger ist es, bereits präventiv im Rahmen der Arbeitsplatzevaluierung und beim Setzen von betrieblichen Präventionsmaßnahmen Führungskräfte und alle Mitarbeiter:innen für das Thema „chronische Schmerzen“ zu sensibilisieren und entsprechende Informationen zugänglich zu machen. Betriebliche Ansprechpartner:innen wie Arbeitsmediziner:innen oder Arbeitspsychologen:-psychologinnen sollten allen Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen bekannt sein, damit Gespräche unter Wahrung der Vertraulichkeit für Betroffene möglich sind. Ein betriebliches Wiedereingliederungsmanagement sollte frühzeitig etabliert werden, um betroffenen Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen entsprechende Hilfestellung und eine schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz zu ermöglichen.

Literatur/Quellen:

  • Reith, Wolfgang: Nichtspezifische Kreuzschmerzen und Chronifizierung, Der Radiologe 60 (2020)
  • Fachgespräche Psychiatrie & Allgemeinmedizin, Schmerz & Psyche; Fortbildungsreihe Medizin Medien Austria Gmbh; CNS/SDZ/2018/7//8
  • Uexküll, Psychosomatische Medizin, 7. komplett überarbeitete Auflage 2011, Kapitel 71

Zusammenfassung

Psychische Belastungen erhöhen die Muskelspannung, was längerfristig zu Beschwerden des Bewegungs- und Stützapparats führen kann. Muskel-Skelett-Erkrankungen entstehen oft durch ein Zusammenwirken von physischen, psychischen und individuellen Faktoren. Verringern lässt sich das Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen durch organisatorische und psychosoziale Maßnahmen.


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