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Sucht in Zeiten der Corona-Pandemie

Junger Mann mit Krawatte trinkt am Arbeitsplatz ein Glas Wein.
Adobe Stock

Ein Glas Sekt zum Anstoßen auf einen Geburtstag, eine Zigarre als Abschlussritual zur bestandenen Lehrabschlussprüfung – der Konsum von Suchtmitteln ist in unserer Gesellschaft fester Bestandteil des kulturellen Lebens. Sei es die psychedelisch-farbenfroh von halluzinogenen Substanzen inspirierte Popkultur oder die literarisch-philosophische Kaffeehauskultur, die wohl ohne das koffeinhaltige Heißgetränk und, zumindest in früheren Zeiten, ohne von Tabakrauch geschwängerte Luft kaum vorstellbar waren – psychoaktive Substanzen dienten immer schon der Inspiration von Künstlern:Künstlerinnen und förderten das soziale Zusammenleben. Einen wichtigen Beitrag leisten psychoaktive Substanzen auch in der Medizin, sei es der Einsatz von Opiaten bei der Behandlung von starken Schmerzen oder die Verabreichung bei akutem Bedarf von Benzodiazepinen bei Angsterkrankungen. Die Erforschung dieser und weiterer Substanzen hat im medizinischen Bereich in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen.

Wie kommt es nun aber dazu, dass manche Menschen es schaffen, ihr Konsumbedürfnis in einem genussvollen Rahmen zu halten, andere Menschen aber einen riskanten und gesundheitsschädlichen Konsum entwickeln und an einer Sucht erkranken? Und wie wirken sich die besonderen Umstände einer Gesundheitskrise wie die der derzeitigen Corona-Pandemie auf den Konsum von legalen wie illegalen Substanzen aus? Dieser Artikel beschäftigt sich mit diesen Fragen und stützt sich dabei auf Beobachtungen und Erfahrungswerte, die in der ambulanten Suchtbehandlung beim Verein p.a.s.s. sichtbar wurden.   

Substanzgebundener Konsum als Krankheit

Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Konsum von legalen und illegalen Substanzen zu verstehen, ist es wichtig, einen Blick auf die vielfältigen und miteinander verflochtenen Ursachen einer Suchtentwicklung zu werfen. Pharmakologische, somatische, soziale und psychische Wirkfaktoren greifen ineinander und treten in Wechselwirkung. So reicht z. B. das angenehme Gefühl durch einen Alkoholrausch allein nicht aus, um die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit zu erklären. Es besteht jedoch ein erhöhtes Risiko, wenn der Alkoholkonsum eine Funktionalität bekommt und zu einer wichtigen Strategie wird, um mit negativen Emotionen umzugehen. Ist diese Strategie dann auch noch gesellschaftlich akzeptiert und wurde durch die Sozialisation bereits erlernt oder wird durch das soziale Umfeld und die Verfügbarkeit verstärkt, steigt das Risiko einer Suchtentwicklung weiter an. 

Ein ganzheitliches Verständnis von Sucht sollte notwendigerweise interdisziplinär und störungsspezifisch angelegt sein. Sucht zeigt sich als Spitze des Eisbergs. Darunter liegen behandlungsbedürftige komplexe Thematiken wie innere Konflikte, psychische Verletzungen und frühkindliche Beziehungsstörungen. Suchterkrankungen treten häufig im Rahmen eines „komorbiden“ Problems bei bestimmten Traumafolgestörungen, wie etwa der posttraumatischen Belastungsstörung, auf. Auch kann sich eine Suchterkrankung als direkte Folge auf ein oder mehrere traumatische Erlebnisse entwickeln. Viele suchtkranke Menschen haben in ihrer Lebensgeschichte Gewalterfahrungen gemacht oder sexualisierte Übergriffe und/oder einen umfassenden, oft chronischen, Vertrauensmissbrauch erfahren. 

Suchtverhalten treffen wir nicht nur in einer bestimmten Schicht an, es zeigt sich in allen gesellschaftlichen Milieus. So kann auch eine „Wohlstandsverwahrlosung“ oder ein „grenzenloses Zuviel an Beachtung“ einen Risikofaktor darstellen. In der Diagnostik besteht das Grundproblem, dass die Sucht als Krankheit einerseits als eigenständiges Störungsbild und andererseits als Ausdruck unterschiedlicher psychischer Grundstörungen wie z. B. Persönlichkeitsstörungen oder affektiver Störungen, bzw. als deren Symptom verstanden werden kann. Das Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der Weltgesundheitsorganisationen betont hier vor allem Ersteres. Im Abschnitt F 1 werden die Suchterkrankungen als psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen zusammengefasst.

Ambulante Suchtbehandlung am Beispiel des Vereins p.a.s.s.

Der Verein p.a.s.s. (die Abkürzung steht für Psychotherapie, Angehörigenarbeit, Suchtbehandlung und Sozialbetreuung) legt großen Wert auf eine umfassende, ganzheitliche und nachhaltige Behandlung. Dabei wird auf die individuellen psychischen, medizinischen und sozialen Bedürfnisse der Klienten:Klientinnen eingegangen und das soziale Umfeld eingebunden. Aufbauend auf einer fundierten klinisch-psychologischen und psychiatrischen Diagnostik wird eine meist mittel- oder längerfristige psychotherapeutische Behandlung und, sofern aus fachärztlicher Sicht indiziert, auch eine passende medikamentöse Behandlung etabliert. Sozialarbeit kann begleitend in Anspruch genommen werden. Vor allem zu Beginn steht in der Suchtbehandlung die Motivationsarbeit im Vordergrund. Im weiteren Verlauf entwickelt sich die Stabilisierungsarbeit zum zentralen Element im ersten Stadium der multiprofessionellen Arbeit. Als ein essenzieller Bestandteil eines erfolgreichen, tragfähigen Arbeitsbündnisses ist die gute Vertrauensbasis zwischen Psychotherapeut:in und Klient:in unabdingbar. Das nachhaltige Ziel der störungsspezifischen Suchtbehandlung beim Verein p.a.s.s. ist die Förderung einer Langzeitstabilisierung und einer essenziellen Verbesserung der Beziehungs- und Bindungsfähigkeit.

Krise und Konsum – Entwicklungen im Konsumverhalten während der Corona-Pandemie 

Es ist unbestritten, dass die Auswirkungen einer Gesundheitskrise wie der Corona-Pandemie in erster Linie Belastungen für das Individuum sowie auch für die Gesellschaft zur Folge haben. Die anhaltende Dauer und die Ungewissheit über ein mögliches Ende des pandemischen Geschehens und der damit einhergehenden Belastungsfaktoren verstärken die negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Dies trifft vor allem auf Menschen mit erhöhter Vulnerabilität zu. Zu den folgenden Beobachtungen aus der praktischen Tätigkeit verschiedener Professionen (Psychotherapie, Medizin, Psychologie, Sozialarbeit) mit Menschen mit einer Suchterkrankung in der ambulanten Suchtbehandlungseinrichtung Verein p.a.s.s. ist wichtig anzumerken, dass es sich um Eindrücke und Erfahrungswerte handelt. Allgemeine Aussagen lassen sich daraus nicht ableiten. In Bezug auf das Konsumverhalten wurden insgesamt wenig Veränderungen wahrgenommen. Individuelle Konsummuster sowohl bei legalen als auch bei illegalen Substanzen blieben größtenteils so, wie sie auch schon vor der Corona-Pandemie ausgeprägt waren. Konsumenten:Konsumentinnen, die häufiger in Gesellschaft und in Lokalitäten Alkohol getrunken haben, waren hier jedoch in ihrem Konsummuster eingeschränkt und es kam zu einer Verlagerung des Konsums auf private Räume und, abhängig von der Jahreszeit und den zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden Corona-Maßnahmen, auch zu einer Verlagerung in öffentliche Räume. Konsumsituationen, in denen die Konsumenten:Konsumentinnen alleine waren, wurden insgesamt verstärkt berichtet. Tendenziell wurde beobachtet, dass ein erhöhter Leidensdruck entstand, wenn der private Konsumraum ein gemeinsamer Sozialraum war, vor allem wenn es sich um einen gemeinsamen Wohnraum gehandelt hat. Damit stimmt auch die Beobachtung überein, dass die Anzahl an Angehörigenberatungen seit 2020 deutlich gestiegen ist. Hier ist aber auch ein Zusammenhang mit erweiterten Kapazitäten und vermehrten niederschwelligen Angeboten wie der Möglichkeit zu Teleberatungen wahrscheinlich. Eine Verlagerung des Konsums in private und öffentliche Räume legt die Vermutung nahe, dass problematisches Konsumverhalten sowohl im näheren sozialen Umfeld als auch auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene sichtbarer geworden ist.

Suchtverhalten treffen wir nicht nur in einer bestimmten Schicht an, es zeigt sich in allen gesellschaftlichen Milieus.

Felix Böll, Birgit Köchl

Die persönlichen Gründe für die Einnahme von Suchtmitteln sind ein wichtiger Bestandteil bei der Ausprägung eines individuellen Konsummusters. Hier wurde beobachtet, dass der Konsum als Strategie im Umgang mit den Themen „Langeweile“ und „Anspannung“ zugenommen hat. Betroffen waren dabei vor allem Konsumenten:Konsumentinnen, deren Lebensalltag sich besonders stark durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie verändert hat. Zwei Gruppen von Konsumenten:Konsumentinnen, bei denen das sehr deutlich sichtbar wurde, sind junge Erwachsene und alleinerziehende Mütter. Junge Erwachsene befinden sich in einer sensiblen Entwicklungsphase hin zu Selbstständigkeit und Selbstverantwortung. Nicht nur in der beruflichen Orientierung spielen die sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen eine bedeutende Rolle. Oft eingeschränkte Bildungsangebote reduzierten diese wichtigen sozialen Kontakte und verringerten gleichzeitig die Entwicklung einer beruflichen Perspektive. Hier trat der Substanzkonsum als Strategie im Umgang mit „Langeweile“ bzw. einer „inneren Leere“ vermehrt in den Vordergrund. Auch wurden bei jungen Erwachsenen vermehrt Suizidgedanken und das Gefühl, Jahre zu verlieren, beobachtet. Bei alleinerziehenden Müttern wurde in erster Linie Überforderung beobachtet. Viele strukturelle Angebote wie z. B. Kinderbetreuungsangebote fielen weg. Dazu kam, dass die alltägliche Belastung durch Homeoffice und Homeschooling stark anstieg. Der Substanzkonsum zeigte sich hier besonders in seiner beruhigenden Funktion.

Diese beiden Gruppen werden hier exemplarisch genauer ausgeführt. Insgesamt zeigten sich allgemeine Risikofaktoren für die Entwicklung einer Suchterkrankung unter pandemischen Bedingungen verstärkt ausgeprägt. Hier sind z. B. das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, Arbeitslosigkeit, eine Beschäftigung in der Gastronomie, im medizinischen Bereich oder als Lehrpersonal zu nennen.

Chancen und Grenzen neuer Behandlungsansätze

Der Schutz von Risikogruppen und die Eindämmung der Pandemieentwicklung brachten auch besondere Herausforderungen für die ambulante Suchtbehandlung mit sich. Es war enorm wichtig, weiterhin einen niederschwelligen, kostenneutralen Behandlungszugang zu etablieren. Es wurden vermehrt Online-Behandlungen angeboten, die von vielen Klienten:Klientinnen gut und gerne angenommen wurden. Diese zeigten sich einerseits hinsichtlich bestimmter Störungsbilder für die Behandlung besonders unterstützend und ermöglichend (z. B. bei Ängsten, die Wohnung zu verlassen), haben sich anderseits aber auch symptomverstärkend ausgewirkt (z. B. bei Vermeidungsverhalten). Krisenzustände konnten aber durch eine erhöhte Flexibilität und den niederschwelligen Zugang engmaschig abgefangen werden. Die Weiterführung von medizinischen Substitutionsbehandlungen war aufgrund der raschen rechtlichen Anpassungen gut möglich. Perspektivisch wird ein Angebot mit analoger, aber auch digitaler psychotherapeutischer Behandlung sehr wichtig sein. Diese Kombination kann eine optimale, kontinuierliche Behandlung sowohl störungs- als auch situationsspezifisch auch dann ermöglichen, wenn z. B. die Pandemie weiter andauert.

Auswirkungen auf die betriebliche Suchtprävention

In der betrieblichen Suchtprävention spielt der soziale Faktor eine wesentliche Rolle. Nicht nur bei der Erhebung möglicher Hinweise, dass bei Mitarbeiter:innen eine Suchterkrankung vorliegen könnte, wodurch erst möglich wird diese anzusprechen, sondern auch im Aufbau eines vertraulichen Rahmens, in dem offen über eine Erkrankung gesprochen werden kann, ist die soziale Beziehung eine wichtige Voraussetzung. 

Arbeitgeber:innen handeln hier im Sinne der Fürsorgepflicht nach § 3 Absatz 1 des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes und sind somit verpflichtet, „… für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen. Sie haben die zum Schutz des Lebens und der Gesundheit erforderlichen Maßnahmen zu treffen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung arbeitsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung.“ 

Viele Maßnahmen während der Corona-Pandemie haben die Arbeitsgestaltung vor allem hinsichtlich der Reduktion von sozialen Kontakten betroffen. Diese Maßnahmen waren und sind weiterhin eine wichtige Säule für den Gesundheitsschutz von Arbeitnehmer:innen. Die Herausforderung ist es daher, die Arbeitssituation so zu gestalten, dass soziale Kontakte und Interaktionen als wichtige suchtpräventive Faktoren wieder gestärkt werden können, ohne dass dabei der Gesundheitsschutz vernachlässigt wird. 

Die Arbeitssituation in betrieblichen Räumen ist daher per se ein suchtpräventiver Faktor. Größere Betriebe können hier leichter auf technischer Ebene ansetzen und z. B. in Lüftungsanlagen und permanente UV-Desinfektion investieren. Generell empfiehlt es sich auf organisatorischer Ebene anzusetzen und z. B. flexible Arbeitszeitmodelle zu etablieren. Soziale Interaktionen werden so gleichmäßiger über den Arbeitstag verteilt. In den Sozialräumen sollte es möglich sein Abstand einzuhalten. Für die Telearbeit werden klare Rahmenbedingungen und ein hohes Maß an Struktur empfohlen. Soziale Interaktionen können durch Teamarbeit sowie (video-)telefonische Kontakte gestärkt werden. Telearbeit stellt zwar einerseits ein erhöhtes Risiko für soziale Isolation dar, ermöglicht andererseits aber eine gute Adaption der Arbeitsbedingungen an individuelle Bedürfnisse. Hybride Arbeitsformen sind aus suchtpräventiver Sicht alleiniger Telearbeit vorzuziehen.

Weiterführende Informationen (abrufbar auf https://sdw.wien/information/broschueren-infomaterial):

  • Broschüre ISP (2018): Wie sage ich es meinem Kind? Wien.
  • Broschüre ISP (2016): Alkohol und andere Suchtmittel am Arbeitsplatz, Leitfaden für Führungskräfte. Wien. 
  • Broschüre ISP (2017): Sucht am Arbeitsplatz – was tun? Angebote für Wiener Betriebe. Wien.
  • Broschüre ISP (2018): Sucht am Arbeitsplatz, Informationen für MitarbeiterInnen. Wien. 

LITERATUREMPFEHLUNGEN

  • Brisch, K.H. (2019): Bindung und Sucht. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Bilitza, K.W. (2009): Psychodynamik der Sucht – Einführung. In: Bilitza, K.W. (Hg.): Psychodynamik der Sucht. Psychoanalytische Beiträge zur Theorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 11–25.
  • Köchl, B. (2022). Sucht(-behandlung) in Zeiten der Disruption: zwischen Digitalisierung und Pandemie. Wie es weitergeht – Suchtarbeit nach der Pandemie. Die Krise engmaschig abfangen. Momentum 1/2022 – Das österreichische Journal für positive Suchttherapie; herausgegeben vom Anton-Proksch-Institut, 14–15.
  • Köchl, B., Schmalhofer, M. (2021). Psychotherapie mit Suchtkranken: Ein störungsspezifischer Ansatz. Momentum 2/2021 – Das österreichische Journal für positive Suchttherapie; herausgegeben vom Anton-Proksch-Institut, 5–7.
  • Möller, H. J., Laux, G., Kapfhammer, H.P. (2003): Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Aufl. Berlin: Springer.

Zusammenfassung

Dieser Artikel befasst sich mit den Ursachen und der Entwicklung von Sucht. Ein ambulanter Behandlungsansatz wird vorgestellt und auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf süchtiges Verhalten wird anhand von Beobachtungen und Erfahrungswerten in der ambulanten Suchtbehandlung eingegangen. Die Bedeutung für die betriebliche Suchtprävention wird thematisiert.


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