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Komm gut an!

Krank am Steuer?

Präsentismus im Straßenverkehr ist gefährlich: Erkrankungen oder Medikamente können die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen und das Unfallrisiko steigern.

ein Autofahrer hält sich ein Taschentuch vor die Nase
Akute Erkrankungen haben oft gravierende Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. © R. Reichhart

Als Präsentismus bezeichnet man die aus gesundheitlicher, ökonomischer und sicherheitsrelevanter Sicht problematische Bereitschaft von Beschäftigten, trotz akuter Krankheit bzw. dem Vorliegen von Krankheitssymptomen am Arbeitsplatz zu erscheinen. Präsentismus ist ein weit verbreitetes Phänomen. Im österreichischen Fehlzeitenreport, der 2018 das Phänomen des Präsentismus im Besonderen betrachtet hat, wird davon ausgegangen, dass jede:r Beschäftigte in Österreich im Durchschnitt an viereinhalb Tagen pro Jahr mit Krankheitssymptomen arbeiten geht. Das bedeutet, übertragen auf die Verkehrssicherheit, dass pro Arbeitstag etwa 70.000 Mitarbeiter:innen trotz einer akuten Erkrankung in irgendeiner Form am Verkehr teilnehmen, obwohl sie nicht oder nur eingeschränkt dazu fähig sind.

„Bevor man sich hinter das Steuer setzt, sollte man sich fragen: Bin ich körperlich gesund, aber auch kognitiv und psychisch fit genug, um den Fahraufgaben nachzukommen?“, rät der Arbeitspsychologe MMag. Martin Unterkircher vom Unfallverhütungsdienst der AUVA-Außenstelle Innsbruck. Inwieweit man körperlich dazu in der Lage ist, ein Fahrzeug zu lenken, sei vergleichsweise einfach zu beurteilen – etwa, ob man trotz einer Fußverletzung die Pedale eines Autos bedienen kann. Wesentlich schwerer tun sich die meisten mit der Einschätzung der kognitiven und psychischen Fähigkeiten, die durch Krankheit oder Nebenwirkungen von Medikamenten eingeschränkt sein können.

Krankheit und Beruf

Laut Fehlzeitenreport besteht ein Zusammenhang zwischen Krankheitsbild und Arbeitsfähigkeit in einem bestimmten Tätigkeitsbereich. Einerseits ist die Wahrscheinlichkeit einer arbeitsbedingten Erkrankung oder eines Unfalls in manchen Berufen höher, andererseits hängt es von der beruflichen Tätigkeit ab, ob eine Krankheit Arbeitsunfähigkeit verursacht oder nicht. Wer sich z. B. den Fuß verstaucht hat, wird kaum dazu fähig sein, körperlich schwere Arbeiten zu verrichten, leichte Bürotätigkeiten wären aber möglich.

Die Konsequenzen von Präsentismus unterscheiden sich ebenfalls je nach Beruf. Eine krankheitsbedingt herabgesetzte Leistungsfähigkeit führt zu einer höheren Fehlerhäufigkeit, was im Verkehr ein gesteigertes Unfallrisiko mit sich bringt. Berufskraftfahrer:innen und berufliche Vielfahrer:innen zählen daher zu jenen Berufsgruppen, bei denen Präsentismus schwerwiegende Folgen nach sich ziehen kann. Unterkircher weist allerdings darauf hin, dass auch Personen, die „nur“ einen Bürojob haben, am Straßenverkehr teilnehmen und auf dem Weg zur Arbeit bzw. wieder nach Hause gefährdet sind, wenn sie trotz Krankheit mit dem eigenen Auto fahren.

Akute Krankheitssymptome

Mit hohem Fieber erscheint kaum jemand am Arbeitsplatz. Viele Menschen würden sich jedoch nicht als „krank“ bezeichnen, wenn sie nur einen leichten grippalen Infekt haben. Die üblichen Symptome wie Niesen, Husten oder eine rinnende Nase, wegen der man sich häufiger schnäuzen muss, können aber ausreichen, um im Straßenverkehr abgelenkt zu sein. Beim Niesen schließt man automatisch die Augen und ist dadurch kurz im „Blindflug“ unterwegs. Welche Wegstrecke in nur einer Sekunde „Blindflug“ am Steuer zurückgelegt wird, wird jedoch oft unterschätzt, wie Grafik 1 veranschaulicht.

Verschiedene angefangene und geöffnete Medikamentenblister und -schachteln auf einem Tisch
Neben zahlreichen verschreibungspflichtigen beeinträchtigen auch viele rezeptfreie Medikamente die Verkehrstüchtigkeit. © R. Reichhart

Grippale Infekte können unter anderem von Kreislaufproblemen begleitet sein, wodurch einem schwarz vor den Augen werden kann, oder man hat einen Schwindelanfall und verliert auf einem einspurigen Fahrzeug das Gleichgewicht. Kopfschmerzen, eine übliche Begleiterscheinung von Infekten, erschweren die Konzentration auf den Straßenverkehr.

Die genannten Symptome können die Wahrnehmungsfähigkeit, die Reaktionsgeschwindigkeit und die Reaktionssicherheit beeinträchtigen. Dazu kommen oft noch weitere Faktoren, die sich negativ auf die Verkehrstüchtigkeit auswirken, so Unterkircher: „Bei einem grippalen Infekt schläft man oft schlecht, also nimmt man ein Schlafmittel und am nächsten Tag in der Früh etwas gegen den Infekt. Krankheit, Schlafmangel und Medikamente sind eine sehr gefährliche Kombination.“

Grafik zeigt den Bremsweg bei verschiedenen Geschwindigkeiten

Verkehrsunfälle

Das Resultat ist mangelnde Verkehrstüchtigkeit, die sich z. B. durch Vorrangverletzungen oder die Missachtung von roten Ampeln, Verbots- und Gebotszeichen äußert. Andere Verkehrsteilnehmer:innen werden übersehen oder zu spät wahrgenommen, um noch rechtzeitig reagieren zu können. Die Unfallwahrscheinlichkeit steigt, wie auch das folgende – reale – Beispiel zeigt:

Herr B., ein Lkw-Fahrer, erkrankte an einem Wochenende an einem grippalen Infekt. Trotzdem fungierte er bei einem Skirennen als Torrichter, weil er dem Skiclub seine Mithilfe versprochen hatte und nicht kurzfristig absagen wollte. In der Nacht zum Montag konnte er wegen des Infekts kaum schlafen. Statt sich krankschreiben zu lassen, nahm er ein paracetamolhaltiges Erkältungsmittel ein und fuhr in die Arbeit. Das war einerseits seinem Pflichtbewusstsein geschuldet, andererseits der Tatsache, dass der Allgemeinmediziner, den er üblicherweise konsultierte, bei Krankschreibungen sehr zurückhaltend war.

Als Lkw-Fahrer in der Baubranche übt Herr B. eine körperlich fordernde Tätigkeit mit einer täglichen Einsatzzeit von bis zu zehn Stunden aus. An jenem Montag begann sein Arbeitstag so früh, dass er schon um 4 Uhr 30 aufstehen musste. Er stand unter Zeitdruck, um seine höchstzulässige Fahrzeit einhalten zu können, und kam am Vormittag kaum zum Essen und Trinken. Was daraufhin passierte, steht in der Unfallmeldung: Nach dem Abladen verließ Herr B. mit seinem Lkw um elf Uhr die Baustelle. Er verlor kurz danach das Bewusstsein, wodurch der Lkw von der Fahrbahn abkam, eine viel befahrene Straße und einen Gehsteig querte und dann gegen eine Hausmauer prallte. Herr B. erlitt eine Gehirnerschütterung und ein Schleudertrauma und war vier Wochen im Krankenstand.

Medikamente

Wie offensichtlich auch Herr B. glauben viele, dass ein „harmloses“ Erkältungsmittel die Arbeitsfähigkeit und die Verkehrstüchtigkeit nicht beeinträchtigen kann – ein Fehler, wie Unterkircher betont: „Etliche rezeptfreie Medikamente haben Auswirkungen auf die Verkehrstüchtigkeit. Man sollte schauen, ob sich auf der Verpackung oder auf dem Beipackzettel ein Warnhinweis befindet, bevor man ein Mittel einnimmt.“ In manchen Fällen wird auch in der Bewerbung von Medikamenten gegen grippale Infekte eine gefährliche Botschaft vermittelt: Wenn du in der Früh aufstehst und dich nicht gesund genug für die Arbeit fühlst, es dir aber nicht „leisten“ kann, zu Hause zu bleiben, wirst du durch das Medikament wieder fit.

Eine Unternehmenskultur, die den Fokus stark auf Anwesenheit sowie geleistete Arbeitsstunden legt und in der ein allgemeines Misstrauen bezüglich Fehlzeiten herrscht, fördert Präsentismus

Martin Unterkircher

Im AUVA-Merkblatt M.plus 800 „Sicher unterwegs. Richtiger Umgang mit Müdigkeit, Ablenkung, Substanzen, Erkrankungen und Stress“ sind jene Gruppen von Arzneimitteln aufgelistet, bei denen man im Hinblick auf die Verkehrssicherheit besonders vorsichtig sein sollte. Dazu zählen Erkältungsmittel, Hustenstiller, nicht opioidhaltige Schmerzmittel, Anithistaminika, Hypnotika und Tranquilizer.

Zu den Nebenwirkungen von Erkältungsmitteln können Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit und Störungen der Konzentration zählen. Mittel, die auch stimulierende Substanzen wie Koffein enthalten, führen kurzfristig zu einer subjektiv empfundenen Besserung und dem Gefühl von Fahrtüchtigkeit. Tatsächlich besteht allerdings das Risiko, Gefahren im Straßenverkehr zu unterschätzen. Lässt die Wirkung des Medikaments nach, kommt es häufig zu Ermüdung und verlangsamter Reaktionsfähigkeit. Mögliche Auswirkungen zeigt unter anderem Grafik 2 zu Anprallgeschwindigkeiten bei Sekundenschlaf.

Viele Hustenstiller beeinträchtigen ebenfalls die Reaktionsfähigkeit. Insbesondere der in Hustensäften manchmal eingesetzte Wirkstoff Codein führt zu einer verzögerten Reaktion und verringert darüber hinaus die Fähigkeit der Augen, sich auf wechselnde Lichtverhältnisse, die im Straßenverkehr häufig vorkommen, einzustellen. Auch nicht opioidhaltige Schmerzmittel, die bei leichten bis mäßigen Schmerzen eingesetzt werden, können Kopfschmerzen, Schwindel oder Müdigkeit verursachen. Die Fähigkeit, ein Fahrzeug zu lenken, wird dadurch negativ beeinflusst. Allergische Reaktionen – z. B. bei Heuschnupfen tränende, brennende Augen – beeinträchtigen in schweren Fällen die Fahrtüchtigkeit. Diese Reaktionen werden durch Antihistaminika gelindert, die aber ebenfalls Nebenwirkungen aufweisen. Bei manchen Augentropfen, etwa gegen allergische Bindehautentzündung, ist die Sehfähigkeit in den ersten fünf bis zehn Minuten nach dem Eintropfen eingeschränkt und die Lichtempfindlichkeit erhöht. 

Grafik zeigt Anhalteweg bei unterschiedlichen Sekundenschlaf-Zeiten.

Hypnotika (Schlafmittel) und Tranquilizer (Beruhigungsmittel) führen zu einer Dämpfung des zentralen Nervensystems. Das zeigt sich z. B. in einer deutlichen Verlängerung der Reaktionszeit. Die häufig als Schlaf- oder Beruhigungsmittel verschriebenen Benzodiazepine haben als mögliche Nebenwirkungen Benommenheit, geistige Verwirrtheit, eingeschränktes Urteilsvermögen, Gedächtnisverlust und unsicheren Gang. Werden Schlaf- oder Beruhigungsmittel spät in der Nacht eingenommen, hält die Wirkung nach dem Aufstehen oft noch mehrere Stunden lang an. Studien gehen von einem verdoppelten bis fünffach erhöhten Unfallrisiko unter dem Einfluss von Benzodiazepinen aus.

Besonders gefährlich ist es, wenn Medikamente zusammen mit Alkohol oder Drogen eingenommen werden. Alkohol dämpft das zentrale Nervensystem und verstärkt die Wirkung jener Arzneimittel, die ähnliche Wirkungen auf das Nervensystem haben. Zudem können alkoholische Getränke den Abbau von Medikamenten hemmen: Beide Stoffe konkurrieren unter Umständen um dasselbe Abbausystem, was dazu führt, dass Beeinträchtigungen durch Alkohol und Medikamente länger andauern und es zu ausgeprägten Nebenwirkungen kommen kann. „Bei der Kombination von Medikamenten mit Alkohol oder Drogen können sich die Wirkungen potenzieren“, warnt Unterkircher.

Krank unterwegs

Unterkircher appelliert an Vorgesetzte sowie Kollegen:Kolleginnen von Betroffenen, diese anzusprechen, wenn sie vor einer Fahrt aufgrund einer akuten Erkrankung nicht verkehrstüchtig erscheinen. Diese Mitarbeiter:innen sollten von der Führungskraft darin bestärkt werden, sich krankschreiben zu lassen. In solchen Fällen muss auch berücksichtigt werden, ob die Mitarbeiter:innen in der Lage sind, sicher nach Hause bzw. zum:zur Arzt:Ärztin zu kommen.

Pflichtbewusstsein, wie im Fall des oben erwähnten Herrn B., hat Unterkircher bei Berufskraftfahrern:-fahrerinnen häufig festgestellt. Es komme sehr selten vor, dass jemand eine Fahrt abbricht, weil er:sie sich nicht gesund fühlt: „Wenn man schon 500 km gefahren ist, fällt es schwer, in der Firma anzurufen und zu sagen: ‚Bitte holt mein Fahrzeug ab‘. Leider versucht man eher, das Fahrzeug selbst zurückzubringen, da man weiß, dass das Unternehmen sonst ein Problem hat.“

Neben dem Verantwortungsgefühl gegenüber der Firma spielt oft auch ein Unterschätzen der Anforderungen des Straßenverkehrs eine Rolle. Als Gesunde:r bewältigt man sie gut, aber in einem durch Krankheit bzw. Medikamente beeinträchtigten Zustand können sie zur Überforderung führen.

In einer Notfallkarte, die man im Fahrzeug mitführt, steht unter anderem, was bei einer akuten Erkrankung unterwegs zu tun ist. Wird über die Notfallkarte und bei der Unterweisung klar kommuniziert, dass man nicht weiterfahren, sondern mit Vorgesetzten das weitere Vorgehen besprechen soll, halten sich die Fahrer:innen eher daran.

Präventionsmaßnahmen

Die Ursachen für Präsentismus sind vielfältig. Ebenso vielfältig müssen die präventiven Ansätze sein, damit Beschäftigte zu Hause bleiben, wenn sie krank sind. Faire Arbeitsverträge tragen dazu bei, Existenzängste zu verringern. Durch realistische Zielvereinbarungen und ausreichende Ressourcen werden Überforderungssituationen vermieden und die Tendenz, bei akuten Erkrankungen am Arbeitsplatz zu erscheinen, sinkt. Für Abwesenheit sind entsprechende Vertretungsregelungen festzulegen.

Eine Unternehmenskultur, die den Fokus stark auf Anwesenheit und geleistete Arbeitsstunden legt und in der ein allgemeines Misstrauen in Bezug auf die Fehlzeiten der Mitarbeiter:innen herrscht, fördert Präsentismus. Kontraproduktiv sind auch Rückkehrgespräche, bei denen Druck ausgeübt wird. Beschäftigte müssen sich darauf verlassen können, dass sie vom Unternehmen im Krankheitsfall nicht „fallen gelassen“ werden.

Die Rolle der Vorgesetzten sollte darauf ausgelegt sein, die Mitarbeiter:innen bei ihrer Aufgabenerfüllung bestmöglich zu unterstützen. Damit Führungskräfte dieser Verantwortung nachkommen können, brauchen sie selbst den Rückhalt der Geschäftsführung. Wichtig ist auch die Vorbildfunktion von Führungskräften: Wenn sie selbst bei Erkrankungen zu Hause bleiben und sich auskurieren, werden es die Mitarbeiter:innen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auch tun.

Info

Mehr Informationen zum Thema Fahrtüchtigkeit und Präsentismus liefert das AUVA-Merkblatt M.plus 800 „Sicher unterwegs. Richtiger Umgang mit Müdigkeit, Ablenkung, Substanzen, Erkrankungen und Stress.“ Unter www.auva.at/komm-gut-an (Rubrik Betriebe - Publikationen) kann es kostenfrei bezogen werden. 

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Zusammenfassung

Eine krankheitsbedingt herabgesetzte Leistungsfähigkeit führt zu einer höheren Fehlerhäufigkeit. Das erhöht das Unfallrisiko im Straßenverkehr. Auch leichte Erkrankungen wie grippale Infekte können die Verkehrstüchtigkeit beeinflussen. Zahlreiche Medikamente, darunter rezeptfreie wie Erkältungsmittel, weisen Nebenwirkungen auf, die die Fähigkeit zum Lenken eines Fahrzeugs beeinträchtigen. 


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