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Person mit technischem Exoskelett steht in einer modernen Werkhalle.
© Adobe Stock KI-generiertes Bild / AUAChanel

Ergonomie

Digitale Ergonomie

Die heutige Arbeitswelt ist ohne Digi­tali­sierung nicht mehr vorstellbar. In Hinblick auf die Ergonomie denkt man meist zuerst an ihre negativen Aus­wirkungen, etwa an ver­spannte Muskeln oder trockene Augen durch stunden­lange Bildschirmarbeit. Digi­tali­sierung kann aber auch dazu bei­tragen, ergo­nomisch günstige Arbeits­bedingungen zu schaffen, wie die verschiedenen Anwendungen im Bereich der digitalen Ergo­nomie zeigen.

Laut Franziska Mally, MSc PhD, Ergonomin in der AUVA-Hauptstelle, ist digitale Ergonomie ein weit gefasster Oberbegriff. Darunter fallen Einsatzgebiete wie die Erfassung und Analyse physischer Belastungen oder umgebungsbezogener Daten, die Planung und Simulation von Arbeitsprozessen, aber auch die Übernahme belastender Tätigkeiten durch Roboter.
So kommen digitale Technologien zum Einsatz, wenn körperliche Belastungen in der Arbeit erfasst werden sollen. Sie helfen, neue Arbeitsplätze ergonomisch zu gestalten und bestehende zu verbessern. Umgebungsfaktoren wie Klima, Licht und Akustik lassen sich digital überwachen und steuern. Kollaborative Roboter übernehmen anstrengende Tätigkeiten. Richtiges Heben und Tragen kann virtuell geübt werden.

Erfassung physischer Parameter
Digitale Technologien ermöglichen eine objektive Erfassung physischer Parameter, die Art und Intensität der Belastungen bei der Arbeit anzeigen. „Früher war man auf Beobachtung oder die Auswertung von Videoaufnahmen angewiesen. Mit digitalen Tools kann man quantitativ und qualitativ besser erfassen, wie sich Menschen in einem Arbeitssystem verhalten“, so Prof. Dr.-Ing. Sascha Stowasser, Direktor des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. (ifaa). Bei der Erfassung der physischen Parameter kommen sensor- oder kamerabasierte Systeme bzw. eine Kombination aus beiden zum Einsatz.

Digitale medizinische Anzeige mit einem menschlichen Körperscan und Vitaldaten.
© Adobe Stock / Emiliia
Simulationsprogramme ermöglichen […] einen Blick ins Innere des Körpers. […] Der Einfluss externer Parameter wie Lastgewichte lässt sich simulieren, ohne dass Menschen diesen Belastungen unter realen Bedingungen ausgesetzt werden müssen.
Franziska Mally
Porträt
Sascha_Stowasser ©ifaa consulting



Sensorbasierte Systeme
„Unter den sensorbasierten Systemen, welche die Bewegungen eines Menschen erfassen, haben sich in den letzten Jahren IMU-basierte Systeme etabliert. IMU steht für ‚Inertial Measurement Unit‘. Diese kombiniert mehrere Sensortypen“, erklärt Mally. Typische Komponenten einer IMU sind ein Beschleunigungssensor (Accelerometer), der z. B. Schritte oder Armbewegungen misst, ein Drehratensensor (Gyroskop) zur Messung von Winkelgeschwindigkeiten, etwa bei Drehbewegungen, und ein Magnetfeldsensor (Magnetometer), um Lage und Orientierung im Raum zu bestimmen.
Kraftsensoren messen, wie stark eine Person zieht, drückt, hebt oder schiebt. Drucksensoren erfassen den auf eine Fläche ausgeübten Druck. Sie werden häufig zur Messung des plantaren Drucks beim Gehen oder Stehen verwendet. Hauttemperatursensoren können Hinweise darauf geben, ob eine Person an einem Hitze- oder Kältearbeitsplatz an eine kritische Belastungsgrenze kommt oder ob die Körpertemperatur infolge großer Anstrengung ansteigt. Elektromyographie (EMG) misst die elektrische Aktivität der Muskulatur bei Kontraktionen. Ein auf einem Muskel angebrachter EMG-Sensor ermöglicht es, die Beteiligung des Muskels an einer Bewegung oder Halteposition zu quantifizieren.
Aus dem Freizeitbereich bekannte Wearables kommen auch im Arbeitskontext zum Einsatz. „Wearables sind gut individuell anpassbar und relativ unauffällig, daher haben sie eine hohe Akzeptanz bei den Beschäftigten. Da sich anhand der Daten der Arbeitsablauf einer Person nachverfolgen lässt, muss die Auswertung anonymisiert erfolgen“, betont Stowasser. Als Anwendungsbereiche für Wearables nennt er Logistik und Montage, wo z. B. Armband- und Gürtelsensoren Arm- und Laufbewegungen aufzeichnen.
Sensorbasierte Systeme eignen sich laut Stowasser besonders gut für Langzeitbeobachtungen, etwa von Schichtverläufen. Sie liefern Echtzeitdaten und bieten anhand von Belastungsprofilen auch die Möglichkeit zur Früherkennung von Überlastung. In diesem Fall erhält die betroffene Person eine Warnung, um rechtzeitig eine Pause einzulegen oder die Tätigkeit zu wechseln.

Kamerabasierte Systeme
Kamerabasierte Systeme erfassen mit optischen Sensoren Körperhaltung, Bewegungen und Interaktionen. Stowasser bringt ein Beispiel aus dem Bereich der Mensch-Roboter-Interaktion: „Im Zuge von Bewegungsabläufen kann der Abstand zwischen Mensch und kollaborativem Roboter ermittelt werden.“ Man unterscheidet zwischen einer 2D-Bewegungserfassung mit einer Kamera und einem aus zwei oder mehreren Kameras bestehenden System (3D). Letzteres ist genauer, allerdings auch aufwändiger und teurer. Mittlerweile lassen sich dank künstlicher Intelligenz mit einer einzelnen Kamera ebenfalls gute Ergebnisse erzielen.
Die Infrarot-Thermografie (IRT), ein berührungsloses bildgebendes Messverfahren, arbeitet mit wärme­empfindlichen IRT-Sensoren, die Digitalkameras ähneln. Die Sensoren erfassen die vom Körper abgegebene Infrarotstrahlung, von der man auf physiologische Prozesse schließen kann. Die Ausgabe erfolgt in Form von Wärmebildern (Thermogrammen). An der Farbgebung lässt sich z. B. erkennen, ob eine erhöhte muskuläre Beanspruchung vorliegt.
Ein weiterer Sonderfall eines kamerabasierten Systems ist Eyetracking, das auch von AUVA-Experten:-Expertinnen in Betrieben eingesetzt wird. Auf einer speziellen Brille sind winzige Kameras montiert, die sowohl die Bewegungen der Pupillen als auch die im Blickfeld des:der Trägers:Trägerin liegende Umgebung aufzeichnen. „Einsatzgebiete in der Ergonomie sind beispielsweise die Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen oder die Analyse von Handlungsabläufen bei manueller Fertigung“, so Mally.
Die am einfachsten in der Praxis anwendbare Version eines kamerabasierten Systems nutzt eine Handykamera in Verbindung mit einer App. Beispiele dafür sind die AUVA-App „Heben und Tragen“ und das von der AK Niederösterreich geförderte Projekt „Ergo4All“ der TU Wien und der FH St. Pölten. Bei beiden wird eine mit dem Smartphone aufgenommene Bewegung von einer Handy-App analysiert. Der:Die Nutzer:in erhält die in leicht verständlicher Form aufbereiteten Analyseergebnisse und Hinweise für eine ergonomisch richtige Bewegungsausführung.

Autonome Transportroboter bewegen Kartons in einem Lager.
Autonome Transportsysteme übernehmen schwere Tätigkeiten und entlasten Beschäftigte im Arbeitsalltag © Adobe Stock / Gorodenkoff
Personen in Schutzkleidung planen Produktionsabläufe an mehreren Monitoren.
Mithilfe digitaler Fertigungsplanung werden ergo­nomische Abläufe entwickelt und der optimale Einsatz kollaborativer Roboter abgeleitet © Adobe Stock / Gorodenkoff
Mit digitalen Tools kann man quantitativ und qualitativ besser erfassen, wie sich Menschen in einem Arbeitssystem verhalten.
Sascha Stowasser

Digitale Menschmodelle
Zur Simulation des Muskel-Skelett-Systems verwendete digitale Menschmodelle beruhen häufig auf Daten von biomechanischen Analysen mit sensor- oder kamerabasierten Systemen. „Simulationsprogramme ermöglichen, ausgehend von realen Bewegungsdaten, einen Blick ins Innere des Körpers und können Parameter wie Gelenks- und Muskelkräfte berechnen. Der Einfluss externer Parameter wie Lastgewichte lässt sich simulieren, ohne dass Menschen diesen Belastungen unter realen Bedingungen ausgesetzt werden müssen“, erläutert Mally.
Digitale Menschmodelle kommen sowohl bei der Planung neuer Arbeitsplätze als auch bei der Optimierung bestehender zum Einsatz. „Wenn man die Ergonomie bereits in einer frühen Planungsphase berücksichtigt, spart man sich später kostenintensive Korrekturen“, so Stowasser. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass Personen unterschiedlicher Körpergröße, aber auch mit alters- oder gesundheitsbedingten Einschränkungen – etwa mit geringerer Muskelkraft, eingeschränktem Bewegungsradius oder reduzierter Sehleistung – simuliert werden können.

Umgebungsparameter erfassen und regeln
Die Arbeitsumgebung ist ebenfalls ein wesentlicher Gegenstand der Ergonomie. Umgebungsparameter wie Klima, Beleuchtung und Akustik können mithilfe digitaler Sensorik erfasst und geregelt werden, um physische und psychische Belastungen zu reduzieren. Die zum Raumklima beitragenden Faktoren Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftqualität lassen sich mit Temperaturfühlern, Hygrometern und CO₂-Sensoren überwachen. In Verbindung mit automatisch gesteuerten Klimaanlagen, Lüftungs- und Heizsystemen kann so ein gesundes Raumklima hergestellt werden.
Die Beleuchtung kann anhand von Messungen der Beleuchtungsstärke und Farbtemperatur dynamisch angepasst werden, um optimale Lichtverhältnisse herzustellen und den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus zu berücksichtigen. Wie bei der Temperatur gibt es zum Teil auch bei der Beleuchtung die Option individueller Einstellungsmöglichkeiten – etwa, wenn altersbedingt ein erhöhter Lichtbedarf besteht. Akustische Umgebungsbedingungen werden mit Schallpegelmessern überwacht, intelligente Systeme können durch Geräuschdämpfung oder raumakustische Regelung Lärmbelastungen reduzieren.

Arbeitserleichterung und Schulung
Auch andere digitale Technologien finden in der Ergonomie Anwendung. So tragen kollaborative Roboter wesentlich zur Arbeitserleichterung bei, indem sie besonders belastende Tätigkeiten wie Überkopfarbeiten, schwere Hebe-, Halte- bzw. Schraubarbeiten oder repetitive Bewegungen übernehmen. „Sicherheitstechnisch müssen Systeme mit kollaborativen Robotern so gestaltet werden, dass es zu keinem Unfall kommt. Es ist wichtig, die Beschäftigten, die mit den Robotern arbeiten, zu schulen“, erklärt Stowasser.
Bei Schulungen zum Thema Ergonomie können unterschiedliche digitale Technologien zum Einsatz kommen. Das reicht von interaktiven E-Learning-Modulen über die bereits erwähnten Apps bis zu Virtual Reality (VR). In der deutschen Autoindustrie werden laut Stowasser VR-Brillen eingesetzt, damit Mitarbeiter:innen noch im Planungsstadium befindliche Montageabschnitte virtuell erkunden können. Ein deutscher Paket- und Brief-Expressdienst führt VR-Schulungen zum sicheren Heben und Tragen sowie zur Palettenverladung durch.
Mally fasst das Angebot der AUVA zum Thema digitale Ergonomie zusammen: „Wir unterstützen gerne dabei, geeignete Methoden zur Erfassung von Belastungen im Sinn der verpflichtenden Arbeitsplatzevaluierung sowie der präventiven Beurteilung zu finden und Maßnahmen zur Belastungsreduktion abzuleiten. Fachkundige Organe der AUVA führen dazu betriebliche Beratungen vor Ort durch.“ Zur Auswahl stehen auch Seminare, Inhouse-Firmenseminare und – teils kostenlose – Webinare. Ein neues Merkblatt über digital unterstützende Systeme im Arbeitnehmer:innenschutz ist derzeit in Vorbereitung. ●

Person mit VR-Brille erkundet virtuell einen Arbeitsbereich.
VR-Technologie ermöglicht es Beschäftigten, geplante Montage­bereiche virtuell zu erkunden und ergonomische Arbeitsabläufe frühzeitig zu verbessern © Adobe Stock / amorn

Zusammenfassung:
Digitale Ergonomie trägt dazu bei, Arbeitsplätze gesundheitsförderlich zu gestalten. Dafür kommen unterschiedliche digitale Technologien zum Einsatz: sensor- oder kamerabasierte Systeme zur Erfassung körperlicher Belastungen, Simulationen mit Menschmodellen, Überwachungs- und Steuerungssysteme für Umgebungsbedingungen, kollaborative Roboter und zu Schulungszwecken dienende virtuelle Szenarien. ●


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