Ergonomie
Gesundheitsgefährdungen in der Pflege erkennen
Menschen in Pflegeberufen sind im Berufsalltag erheblichen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Ziel der Arbeitsplatzevaluierung ist, das mögliche Risiko einer körperlichen Überbeanspruchung festzustellen und mit Maßnahmen vor allem dort anzusetzen, wo ein großes gesundheitliches Risiko besteht.
Pflegekräfte arbeiten schwer. Oft denkt man nur an die körperlichen Belastungen. Doch auch der ständige Kontakt mit Krankheit, Leid und Tod kann stark beanspruchen und verlangt neben fachlicher Kompetenz eine ausgeprägte psychische Belastbarkeit.
Faktoren wie Arbeitsverdichtung, Zeitdruck und häufige Unterbrechungen im Arbeitsablauf fördern zusätzlich die emotionale Erschöpfung und erhöhen das Risiko für psychische Erkrankungen wie Burnout und Depressionen. Laut Arbeitsklimaindex 2024 empfinden Pflegekräfte den Arbeitsdruck (38 %) und Zeitdruck (28 %) deutlich stärker als Beschäftigte anderer Berufsgruppen (27 % bzw. 22 %).
Diese Belastungen wirken sich nachweislich auch körperlich aus, etwa durch muskuläre Verspannungen im Nacken- und Rückenbereich, die sich in einer zusammengesunkenen oder kontrakten Körperhaltung manifestieren können (vgl. Elkjær et al., 2020). Diese zusätzliche körperliche Belastung ist präventivmedizinisch relevant.
Neben den psychischen Herausforderungen sind Pflegekräfte auch erheblichen körperlichen Belastungen ausgesetzt – ein Aspekt, der in der arbeitsmedizinischen Prävention besondere Aufmerksamkeit verdient. Zu den zentralen körperlich beanspruchenden Tätigkeiten zählen das Heben, Umlagern und Positionieren von Patienten:Patientinnen. Diese Aufgaben führen zu einer intensiven Beanspruchung der muskulären und skelettalen Strukturen, insbesondere im Bereich von Rücken, Schultern und Gelenken.
In spezialisierten Arbeitsbereichen wie dem Operationssaal treten weitere Belastungsfaktoren auf, darunter das Arbeiten in statischen, ergonomisch ungünstigen Körperhaltungen sowie das Tragen schwerer Lasten über längere Zeiträume. Ein Großteil der pflegerischen Tätigkeit wird zudem im Stehen oder Gehen verrichtet, was häufig zu Beschwerden wie Fußschmerzen und muskulären Verspannungen führt. Aktuelle Daten aus dem Arbeitsklimaindex 2024 zeigen, dass Pflegekräfte besonders häufig über Rückenschmerzen (48 %) und Muskelverspannungen (56 %) klagen.
Die Kombination aus wiederkehrenden mechanischen Belastungen, psychosozialen Risikofaktoren und unzureichenden ergonomischen Rahmenbedingungen – etwa fehlende Hilfsmittel beim Heben, ungünstige Maße am Platz des:der Patienten:Patientin oder mangelndes Wissen über rückenschonende Techniken – begünstigt das Auftreten von Muskel-Skelett-Erkrankungen und stellt ein wesentliches arbeitsmedizinisches Risiko dar (Bernal et al., 2015; Boocock et al., 2018). Darüber hinaus können Zeitdruck und häufige Positionswechsel das Risiko für arbeitsbedingte Unfälle und Verletzungen deutlich erhöhen, was die Dringlichkeit gezielter präventiver Maßnahmen unterstreicht.
Vor dem Hintergrund dieser hohen psychischen und körperlichen Anforderungen gewinnt die systematische Arbeitsplatzevaluierung (Gefährdungsbeurteilung) – insbesondere in helfenden Berufen wie der Pflege – zunehmend an Bedeutung. Sie ist ein zentrales Werkzeug, um arbeitsbedingte Belastungen objektiv zu erfassen und gezielte Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Dabei geht es nicht nur um offensichtliche Belastungsformen, sondern auch um die differenzierte Betrachtung mechanischer Belastungen, die sowohl aktive als auch passive Strukturen des Bewegungsapparates betreffen.
Die Evaluierung bildet die Grundlage für den betrieblichen Arbeitsschutz in der Pflege und ermöglicht die frühzeitige Erkennung gesundheitlicher Risiken sowie die Ableitung passgenauer Schutzmaßnahmen. Sie macht körperliche Belastungen sichtbar, mess- und erfassbar und damit auch gestaltbar.
Gesundheitsgefährdende Tätigkeiten
Im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung, wie sie von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) empfohlen wird, gelten insbesondere bestimmte Belastungsarten als gesundheitsgefährdende Tätigkeiten, die es systematisch zu erfassen und präventiv zu berücksichtigen gilt.
- Heben, Halten, Tragen, Ziehen und Schieben von Lasten und Personen gehören zu den zentralen körperlichen Belastungen in helfenden Berufen.
- Repetitive Tätigkeiten, also gleichförmige, sich häufig wiederholende Bewegungen mit Händen und Armen, können zu Überlastungen führen.
- Erzwungene Körperhaltungen wie langes Stehen, Knien oder Arbeiten über Schulterhöhe bzw. mit erhöhten Haltebelastungen für Arm- und Rückenmuskulatur können zu einer Vielzahl von Beschwerden führen – sowohl akut als auch chronisch.
- Das Bewegen schwerer Patienten:Patientinnen – etwa beim Umlagern, Aufrichten oder Transfer – erfordert den Einsatz von Ganzkörperkräften und stellt eine der intensivsten körperlichen Belastungen in helfenden Berufen dar, da dafür hohe Kräfte erforderlich sind.
Diese Belastungen sind oft nicht sofort sichtbar, wirken aber über Jahre hinweg und führen zu langfristigen gesundheitlichen Einschränkungen.
Evaluierung in der Pflege:
Wie ist konkret vorzugehen?
Trotz des sehr komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren und des Umstands, dass auch zwischen Beschäftigten und den zu unterstützenden Menschen Belastungen auftreten, sind typische Bewegungsabläufe im Pflegebereich bekannt, die eine tätigkeitsspezifische Bewertung der Belastung und damit auch eine Beurteilung der Gefährdung ermöglichen.
Die DGUV hat ein 3-stufiges Verfahren als Hilfestellung zur Evaluierung entwickelt, das im Folgenden vorgestellt wird.
Schritt 1 – Tätigkeitsbereiche definieren – Gefährdungen ermitteln (Grobscreeningverfahren):
Ergebnisse einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (ifADo) haben gezeigt, dass ganz bestimmten Tätigkeiten, die häufig vorkommen und bei denen Beschäftigte oft einen erheblichen Teil des Körpergewichts des zu bewegenden Menschen übernehmen müssen, maßgeblich an der Entstehung von Muskel-Skelett-Erkrankungen beteiligt sind. Diese Tätigkeiten sind bereits bei einmaliger Durchführung und ohne Einsatz von Hilfsmitteln als hochbelastend, insbesondere für den unteren Rücken, einzustufen. Diese wurden als „sicher gefährdend“ (= mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefährdend) eingestuft und sind in der Tabelle in Anhang 1 des DGUV-Leitfadens aufgelistet.
In einem ersten Schritt gilt es nun zu prüfen, wo in den Arbeitsbereichen welche der (in Anhang 1) genannten Tätigkeiten vorkommen. Können Gefährdungen ausgeschlossen werden, sind diese in der Beurteilung nicht weiter zu berücksichtigen. Kommen gefährdende Tätigkeiten jedoch vor (Beantwortung mit „ja“), so ist eine weitere Beurteilung erforderlich und es folgt der nächste Schritt.
Es muss jedoch erwähnt werden, dass diese Tätigkeiten nur für einen Teil der für die Beschäftigten vorliegenden Belastungen verantwortlich sind. Weitere Tätigkeiten, die mit dem Bewegen von Gegenständen verbunden sind, können mit den jeweils dafür geeigneten Leitmerkmalmethoden (LMM) beurteilt werden.
Schritt 2 – Gefährdungen bewerten und beurteilen – orientierende Gefährdungsbeurteilung
Im nächsten Schritt kann orientierend geprüft werden, wie hoch die Belastung und die Gefahr einer Überbeanspruchung sind, wenn Ausführungsart und Mobilitätsgrad der zu unterstützenden Person berücksichtigt werden. Die Häufigkeit bleibt zunächst unberücksichtigt. Hierfür wird der Erhebungsbogen in Anhang 2 verwendet (exemplarischer Auszug s. Abb. 2).
Wenn eine grüngelbe, gelbe oder rote Bewertung aufscheint, besteht Handlungsbedarf. Kann die Gefährdung nicht durch unmittelbare Maßnahmen vermieden werden, ist eine vertiefende Beurteilung (Schritt 3) notwendig (s. Anhang 3, Abb. 3).
Begrifflichkeiten
Ausführungsarten sind wie folgt definiert: Die Arbeitsweise „mit Technischen Hilfsmitteln“ sieht den Einsatz von bspw. elektrisch verstellbarem Pflegebett, Lifter, Positionswechselhilfe vor, wohingegen unter „Kleinen Hilfsmitteln“ bspw. Gleitmatten, Haltegürtel, Rutschbrett, etc. verstanden werden.
Mobilitätsgrade: Unter „überwiegend selbstständigen“ Menschen werden Personen verstanden, die nach Anreichen eines Hilfsmittels in der Lage sind, selbst ihre Position zu verändern. Unter „überwiegend unselbstständig“ werden Personen verstanden, die sich bei einem Positionswechsel oder Transfer nur gering selbst beteiligen können.
Mithilfe einer Farbzuordnung wird die Bewertung der Gefährdung erleichtert:
- Grün: Risikobereich 1, geringe Belastung
- Grüngelb: Risikobereich 2, mäßig erhöhte Belastung
- Gelb: Risikobereich 3, wesentlich erhöhte Belastung
- Rot: Risikobereich 4, hohe Belastung
Wie würde die konkrete Anwendung aussehen? Beispiel: Kann sich beispielsweise ein überwiegend selbstständiger Mensch (Tätigkeit 1a) mit Hilfe eines elektrisch verstellbaren Kopfteils (Techn. Hilfsmittel) allein vom Liegen zum Sitzen bringen, ist die Belastung für die unterstützende Person gering (grün), es besteht kein weiterer Handlungsbedarf. Wird jedoch eine überwiegend unselbstständige Person ohne Hilfsmittel vom Liegen zum Sitzen gebracht (Risikobereich gelb), besteht Handlungsbedarf. Eine mögliche Maßnahme wäre, das Kopfteil eines elektrisch verstellbaren Bettes adäquat einzusetzen. Der Vorteil dieser Übersicht ist, dass konkrete Maßnahmen daraus ablesbar sind.
Schritt 3 – Vertiefende Gefährdungsbeurteilung
Können anhand der orientierenden Beurteilung Belastungen nicht ausreichend ermittelt werden bzw. durch die erfolgten Maßnahmen nicht ausreichend vermindert werden, ist der letzte Schritt notwendig. Hier wird auch die Häufigkeit der jeweils gefährdenden Tätigkeit über eine Schicht bzw. anhand der Tagesbelastung ermittelt (s. Abb. 3).
Für die Bewertung wird zuerst ermittelt, wie oft die Tätigkeit ausgeführt wird (Häufigkeitswichtung H), und dieser Wert anschließend mit der Tätigkeitswichtung (T) multipliziert; das Ergebnis spiegelt die Tagesbelastung in Form des Punktewertes P wider.
P = Hₓ × Tₓ
Kommen mehrere Tätigkeiten vor, so sind die jeweiligen (Teil-)Ergebnisse der Multiplikation zu addieren. Die Summe der Produkte ist der (Gesamt-)Punktewert.
P = (H1ₐ × T1ₐ) + (H1b × T1b) … + …
Information
Die DGUV weist darauf hin, dass das Bewegen von Personen mit einem Gewicht von über 90 Kilogramm aus biomechanischer Sicht hohe Anforderungen stellt und dabei häufig die Grenzen von Belastbarkeit und schadloser Durchführung erreicht werden. Dies gilt auch bei der Zusammenarbeit mehrerer Beschäftigter und bei Anwendung optimierter Arbeitsmethoden (DGUV Information 207-033, 2023).
Konkretes Anwendungsbeispiel: Eine überwiegend unselbstständige Person wird 5-mal pro Schicht mit Hilfe von kleinen Hilfsmitteln vom Bett aus der Rückenlage aufgesetzt oder zurückgelegt (1a) und 3-mal pro Schicht im Bett aus der Rückenlage auf die Bettkante gesetzt (2). Das würde folgenden Punktewert ergeben:
P = (5 × 2) + (3 × 3) = 19
Das Ergebnis der Punktebewertung wird Belastungs- und Risikobereichen zugeordnet (s. Abb. 4). Es ist der objektive Maßstab für die Belastung in der Arbeitsschicht bzw. die Tagesbelastung und Indikator für die Wahrscheinlichkeit einer möglichen körperlichen Überbeanspruchung. ●
Zusammenfassung:
Ziel der Evaluierung ist, das mögliche Risiko einer körperlichen Überbeanspruchung festzustellen und Maßnahmen priorisiert dort zu setzen, wo das höchste gesundheitliche Risiko besteht. Anhand des bewährten Präventionskonzepts des Arbeitnehmer:innenschutzes sind technische Maßnahmen vor organisatorischen und personenbezogenen Maßnahmen zu prüfen. Der Einsatz kleiner Hilfsmittel in Kombination mit einer ergonomischen Arbeitsweise reduziert nachweislich Druckbelastungen im unteren Rücken. ●